Regenwandern und ein Anruf

354 14 137
                                    

Leonie hasst Wandern. Und sie hasst Regen.

Und heute wandert Leonie im Regen.

Ihre schweren Schuhe sinken bei jedem Schritt tief in den Schlamm ein. Das Geräusch, das sie dabei machen, ist unappetitlich.

„Wie weit ist's noch?", fragt Rosie, die hinter Leonie marschiert. „Das ist ja widerwärtig."

Genau, stimmt Leonie ihr bei.

„Es ist nicht mehr weit", antwortet Klaus, der auch hinter Leonie geht. „Wir sollten das CERN sehen können, wenn wir die Passhöhe da vorne erreichen."

Er sollte es ja wissen, denkt sich Leonie. Er ist der einzige ihrer Gruppe, der sich für solche Sachen interessiert. Das Ziel ihrer Wanderung – ihrer Wanderung im prasselnden Regen, betont sie im Geiste – ist der Informationspavillon des CERNs. Ihr Physik- und Klassenlehrer hat ihnen erklärt, was das CERN ist. Es ist ein Ort, an dem Leute mit wildem Haar Teilchen beschleunigen. Diese Teilchen sind derart klein, dass man sie nicht sieht. Und man lässt sie so schnell rumfliegen, dass man sie selbst dann nicht sehen könnte, wenn sie viel grösser wären. Und dann lassen die Leute mit dem wilden Haar diese Teilchen kollidieren, kollabieren oder konsolidieren – oder was immer es ist, was diese Teilchen so machen.

„Die erste Gruppe ist sicher schon dort", fährt Klaus fort. „Im CERN, meine ich."

Leonie nickt. Sie kann sich gut vorstellen, wie ihr Lehrer und die übliche Gruppe der Streber im trockenen Pavillon sitzen und warme Getränke geniessen. Der Rest der Klasse ist wahrscheinlich auch schon fast am Ziel. Die einzigen, die sich noch weit davon entfernt durch den Regen schleppen, sind sie und ihre drei Freunde Klaus, Rosie und Silvan, in gebührendem Abstand von allen andern.

Leonie gähnt ausgiebig. Sie hat letzte Nacht nur wenig geschlafen, im Massenlager. Die Jungs hatten den einen Raum, die Mädchen den anderen. Zu Beginn war das lustig, aber so gegen Mitternacht hatten Leonie, Rosie und die meisten anderen genug. Sie wollten schlafen. Doch ein paar der Mädchen und Jungs schlichen sich ausgerechnet dann nach unten, in die Küche, auf Nahrungs- und Spasssuche. Dieser Ausflug wurde ziemlich laut und das Gelächter hielt Leonie stundenlang wach. Viel zu spät griff dann der Lehrer ein. Er schickte alle ins Bett, so kurz vor zwei Uhr.

Leonies Blick fällt auf Silvans Hinterteil, das vor ihr auf muskulösen Beinen bergan steigt. Der Anblick bring sie in die Gegenwart zurück. Was für eine Kraft!

Sie überlegt sich ernsthaft, ob sie ein weibchenhaftes Geräusch der Erschöpfung von sich geben soll. Vielleicht würde dies den Mann in Silvan wecken, damit er ihr zumindest den schweren Schlafsack abnimmt, den sie auf ihren Rucksack geschnallt hat. Bevor sie diesen vagen Gedanken in die Tat umsetzen kann, sieht sie jedoch vor sich eine Passhöhe. Sie beschliesst deshalb, das Erschöpfungsgeräusch zumindest zu verschieben.

"Jenna?", sagt Silvan plötzlich.

Das Schlimmste ahnend schaut Leonie nach vorne. Auf einem Stein bei der Passhöhe sitzt eine Gestalt. Die langen blonden Haare, die aus der Kapuze derselben engelhaft hervorlugen, bestätigen ihre Befürchtungen. Es ist die wunderschöne Jenna. Jedermanns Liebling. Und sie befindet sich nicht an der Spitze beim Klassenlehrer, wo sie hingehört, sondern hängt aus noch ungeklärten Gründen ausgerechnet hier rum.

"Aaach," sagt Jenna, und die drei 'A' in diesem Wort drücken deutlich hörbar aus, wie schlecht die Welt zu Jenna ist. "Haaalo Klaus, haaalo Silvan. Rosie. Leonie. Ich bin ja sooo froh, euch zu sehen."

"Was ist denn los?" reagiert Silvan, der sichtbar am Schicksal des klagenden Blondgeschöpfs interessiert ist. Ein Gefühl, das Leonie definitiv nicht teilt.

Welt der RuinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt