Abendgedanken und Morgenregen

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Nach ihrer Begegnung mit Jenna und Silvan und ihrer Flucht vor den heraneilenden Dorfleuten rennt Leonie durch den Wald, bis sie nicht mehr kann und keuchend stehen bleiben muss. Sie schaut sich um, in der Erwartung, Verfolger zu sehen. Doch zwischen den grauschwarzen Stämmen der Bäume bewegt sich nichts, und bis auf ihren Atem und das Gezwitscher der Vögel ist alles ganz still.

Sie ist talaufwärts gerannt, weg von ihrem Nachtlager. Sie beschliesst zurückzukehren, aber um das Dorf einen grossen Bogen zu machen.


Auf ihrem Rückweg hört sie auf der Höhe des Dorfes Stimmen. Sie drückt sich in ein Dickicht von Büschen mit dunkelgrünen, dornigen Blättern, die ihr die Arme zerkratzen. Die Stimmen kommen näher, dann entfernen sie sich wieder. Sie sieht niemanden, und die Worte bleiben unverständlich.

Nachdem eine Weile lang alles ruhig bleibt, macht sie sich wieder auf ihren Weg.


Als sie ihr Nachtlager erreicht, ist es bereits Abend. Sie setzt sich im Halbdunkeln ihres Unterschlupfs auf ihren Schlafsack und schaut nach draussen.

Sie denkt an zuhause und realisiert, dass sie damit das Haus am See meint, dort wo sie Klaus und Rosie zurückgelassen haben. Sie fragt sich, wie es ihnen wohl geht. Wenigstens sind sie nicht alleine und können sich gegenseitig Gesellschaft leisten.

Die letzten Strahlen der Sonne färben die Bergflanken auf der gegenüber liegenden Talseite orange. Talaufwärts steigt Rauch vom Dorf auf. Es sind die Rauchsäulen, welche sie hierher geleitet haben.

Ihre Gedanken gehen zu Silvan und Jenna, die jetzt vielleicht an einem der Feuer sitzen, welche für die Rauchsäulen verantwortlich sind. Merken die zwei, dass etwas nicht stimmt? Oder ist es für sie nun völlig normal, im Dorf bei den Menschen dort zu leben? Kümmert sie das überhaupt, oder bewirken die Chips, dass die Welt um sie herum an Bedeutung verliert?

Die beiden haben jetzt vielleicht nichts mehr, was sie bekümmert oder ihnen Sorgen bereitet. Ihr Leben ist eine Abfolge von Tagen voller Frieden. Sie haben ein Zuhause, genug zu essen und Gesellschaft. Keine unerfüllten Wünsche, keine Zweifel, keine Sehnsüchte, keine Furcht. Keine Angst vor dem nächsten Tag.

Auch sie könnte das haben, denkt sich Leonie. Sie müsste nur zu Jan gehen, der würde ihr sicher gerne helfen.

Jan. Beim Gedanken an ihn kommt Wut in Leonie auf. Nein, sie will keinen Chip. Sie will ein Mensch bleiben. Ein Mensch, der Wut verspürt bei solcher Ungerechtigkeit. Ein Mensch, der Hass verspürt gegenüber jemandem, der anderen ihr Menschsein nimmt.

Jan wird seine Taten bereuen. Mit diesem Gedanken legt sich Leonie schlafen.


Am nächsten Tag nähert sich Leonie dem Dorf vorsichtiger als sonst, in der Erwartung, dass Wachen aufgestellt wurden. Doch sie erreicht den Waldrand ohne besondere Vorfälle. Von dort beobachtet sie das morgendliche Treiben. Es sieht alles aus wie am Vortag, bis auf das Wetter, das gestern freundlich war, während jetzt der Himmel grau ist und leichter Regen fällt. Die ersten Leute arbeiten schon auf den Feldern hinter dem Dorf. Silvan und Jenna sieht sie nicht.

Nach einer Weile kommen die drei Männer vom Bunker, Jan und seine Kumpel. Jan trägt, deutlich sichtbar, ein Gewehr umgeschnallt. Dies ist das erste Mal, dass Leonie ihn bewaffnet sieht. Sie ist sicher, dass das kein Zufall ist. Und sie wundert sich, ob diese Waffe seine einzige Reaktion auf ihr gestriges Erscheinen bleiben wird.

Die drei Männer gehen zu einem der Häuser, und der Langhaarige kommt raus. Sie reden. Die beiden Begleiter von Jan stellen die Körbe an die Hauswand, dann begibt sich die ganze Gruppe zum Haus, in welchem Jenna und Silvan wohnen. Jan und der Langhaarige treten ein, die beiden anderen warten draussen.

Die tägliche Routine, welche bisher die Tage im Dorf geprägt hat, ist gebrochen. Sie spürt den Schlag ihres Herzens in ihrem Hals.

Nach einer Weile kommen die zwei wieder raus, in Begleitung von Silvan und Jenna.

Redend bewegt sich die ganze Gruppe langsam in Richtung der Felder auf der anderen Seite des Dorfs.

Leonie beschliesst, sich das genauer anzuschauen, und beginnt, das Dorf im Sichtschutz des Waldes zu umrunden. Sie hält grossen Abstand zum Waldrand und schaut sich immer wieder um. Sie sieht niemanden.

Auf der anderen Seite des Dorfes angekommen, nähert sie sich wieder vorsichtig dem Waldrand, dort wo die Felder liegen, und entdeckt die Gruppe etwas bergaufwärts. Sie sitzen auf einem umgelegten Baumstamm. Jan redet mit seinen Begleitern, Silvan und Jenna sitzen schweigend daneben. Der Langhaarige aus dem Dorf ist verschwunden.

Leonie folgt dem Waldrand etwas bergaufwärts, um näher an die fünf heranzukommen. Dabei beobachtet sie die Bäume um sich herum aufmerksam. Die Stille des Waldes fühlt sich an wie eine Falle. Aber nichts passiert.

Ihr Abstand zur Gruppe beträgt vielleicht fünfzig Schritte, sie kann aber nicht hören, was gesprochen wird.

Sie realisiert, dass sie sich krampfhaft an ihrem Speer festklammert. Sie atmet tief ein und aus und versucht sich zu entspannen. Dann setzt sie sich in ein Gebüsch und wartet.

Nach einer gefühlten Stunde steht Jan auf, und die anderen tun es ihm gleich. Dann beginnt die Gruppe in langsamen Schritten bergwärts zu marschieren. Leonie folgt in sicherem Abstand.

Schon bald erreichen sie einen Pfad, den Leonie nicht kennt. Er führt in ein Seitental.


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Wohin der Pfad wohl führt?

Danke für eure Ausdauer. Wenn ihr beim Lesen nur halb soviel Spass habt wie ich beim Schreiben: Vergesst nicht, manchmal auf den Stern zu tapsen, den ihr da unten seht. Oder einen Kommentar zu hinterlassen. Das bereitet mir viel Freude!

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