Die Fütterung von Sven, und ein Epilog

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„Baah, baah, baah", sagt Leonie. Sven blickt sie mit blauäugiger Verwunderung an und öffnet seinen Mund. Sie ergreift die Gelegenheit und schiebt einen Löffel Apfelpüree ein. Zu ihrer grossen Erleichterung beginnt er zu kauen. Methodisch bearbeitet er das Essen mit seinem einen Zahn, seinem ersten.

Dann hält er inne und betrachtet sie gedankenverloren, als ob er über die Geheimnisse dieser seltsamen Welt nachdenkt, in welche er geboren wurde. „Baah!" sagt er plötzlich, und aus seinem Mund ergiesst sich eine Lawine von Apfelmus. Sie läuft über sein Kinn, seine Kleider und Leonies Schoss.

„Igitt", lacht Anna, die neben Leonie sitzt. „Patentante zu sein hat seine Risiken."

„Jawohl", bestätigt Leonie und beginnt die Sauerei mit einer gestreiften Socke aufzuputzen. Es scheint dieselbe Socke zu sein, mit welcher Rosie früher das Geschirr getrocknet hat, damals im Haus am See, vor fast einem Jahr.

In diesem Jahr ist viel passiert, denkt sich Leonie, als sich ein Lächeln auf Svens Gesicht ausbreitet. Er hat seine Mutter erblickt. Rosie kommt von den Feldern zurück, mit einem Büschel Karotten in der Hand.

Leonie tauscht Sven dankbar gegen das Gemüse. Vor einigen Minuten hat sich sein Bauch angespannt, und es ist höchste Zeit, dass seine Mutter eine sanitäre Untersuchung durchführt.

Leonie trägt die Karotten zum Dorfbrunnen, um sie zu waschen. Zwei Mädchen sitzen an seinem Rand. Die eine hält einen Zweig mit Blättern ins Wasser. Dann zieht sie ihn raus und schüttelt ihn vor dem Gesicht der anderen, so dass Tropfen in alle Richtungen spritzen. Das Opfer kreischt und rennt davon. Die mit dem Zweig verfolgt sie lachend.

Sie waren nicht in der Lage, die Chips zu entfernen. Aber Klaus hat herausgefunden, dass Roberts Maschine die Funktion besitzt, sie zu deaktivieren. Das hat bei den Kindern recht gut geklappt. Sie begannen ziemlich schnell Gefühle zu zeigen und gewöhnten sich in einigen Wochen daran. Für die Erwachsenen war es schwieriger. In einigen Fällen dauerte es Monate, bis sie lebhafter wurden, und dann kamen einige nicht damit zurecht. Es gab ein paar Zwischenfälle. Zwei Männer gerieten in einen Kampf um eine Frau. Eine Dorfbewohnerin fiel in eine Depression. Und es gab einen Selbstmord.

Für Silvan und Jenna war es zum Glück einfacher. Wahrscheinlich weil ihre Gehirne schon daran gewohnt waren mit Gefühlen umzugehen, fanden sie schnell in die Normalität zurück. Leonie war darüber sehr erleichtert, vor allem weil Jenna ebenfalls schwanger war. Sie bekam im Frühling ein Mädchen. Es war eine schwierige Geburt, welche beinahe Mutter und Tochter das Leben gekostet hätte. Dies zeigte Leonie, einmal mehr, wie alleine sie sind. Sie haben nur einander. Wenn sie die Dinge nicht selbst auf die Reihe kriegen, hilft ihnen niemand.

Manchmal sieht Leonie noch Bilder von rotem Blut. Aber jetzt ist nicht die Zeit dafür. Sie hat beschlossen, sich auf das Überleben zu konzentrieren.

Aufs Überleben in der Wildnis. Wilde, die sie sind.

Nachdem sie die Karotten unter dem Wasserstrahl gewaschen hat, macht Leonie sich auf den Rückweg. Emma kommt ihr entgegen. Auch sie ist schwanger, genau wie Anna es vorhergesagt hat, und es könnte jeden Tag soweit sein. Im Dorf gibt es einen richtigen Babyboom. Es scheint, dass Mutter Natur nur darauf gewartet hat, den Menschen hier in der Gegend neues Leben zu schenken.

Emma nickt Leonie zu, während sie langsam die Gasse entlangwatschelt. Ihre Arme hat sie in die Hüfte gestemmt und ihre Schultern zurückgelehnt, um ihr Gleichgewicht zu halten. Sie redet nicht viel. Aber Leonie hofft, dass Emma ihr verziehen hat. Die Beziehung zwischen Emma und Jan war offenbar schon immer schwierig, schon bevor er sich gegen ihre Freundschaft mit Frank gestemmt hat.

Jedenfalls übergab Emma ihre Pistole an Leonie, wenige Tage nach Jans Tod, in einer fast schon theatralischen Geste vor versammelter Bunkerbelegschaft. Freiwillig, Leonie hat sie nie darum gebeten. Sie schien froh, das Ding loszuwerden.

Anna hat Leonie danach erklärt, dass sie, das heisst Leonie, jetzt die Anführerin der Gruppe sei. Leonie ist sich unsicher, es gab nie eine Abstimmung. Sie fühlt sich nicht wie eine Anführerin und hat versucht, dies den anderen zu erklären. Aber als sie vorschlug, dass alle aus dem Bunker ins Dorf umziehen sollten, wurde ihr Folge geleistet, ohne wesentlichen Widerstand.

Leonie ist eine Killerin, und dennoch wurde sie zum Häuptling gemacht. Oder vielleicht gerade deshalb. Wie bei den Wilden.

Ihr Blick schweift auf die Felder des Dorfs. Ein Kranich segelt heran und landet. Sie bleibt stehen, um seine Eleganz zu bewundern. Obwohl sie auf der Jagd schon viele der Tiere sah, hat sie noch nie eines getötet. Es hätte sich falsch angefühlt. Für Leonie sind diese Vögel die Wächter dieser Welt.

Der Kranich blickt sie an, den Kopf etwas zur Seite geneigt, als ob er über sie urteilen würde, abwägen würde, ob sie es wert sei, in der Welt der Ruinen zu leben. Sie zuckt mit den Schultern und geht weiter – sie rechnet nicht damit, dass sie sein Urteil jemals erfahren wird.

Sie erreicht das Haus, das sie mit Rosie und Klaus teilt. Er ist noch nicht vom Reduit zurück, vom Bunker. Er verbringt seine meiste Zeit dort. Die Geräte in den Tunneln sind ein Paradies für Bastler. Der grösste Teil der Ausrüstung wurde von Jan in Stand gehalten, und er hat niemanden gelehrt, wie das geht oder wie alles funktioniert. Wahrscheinlich war dies für Jan ein Mittel, um sich an der Macht zu halten. Nur wenige mochten ihn, aber sie waren auf ihn angewiesen. Zum Glück enthält die heilige Wiki, welche eine Art Tablet-Computer ist, Handbücher für die meisten Geräte.

Klaus neueste Leidenschaft ist eine Funkausrüstung, welche offenbar mit Antennen hoch in den Bergen verbunden ist. Er hofft, sie wieder zum Laufen zu bringen, um den immer noch plappernden Stimmen irgendwo weit weg ein Signal zu senden.

Leonie muss jetzt das Abendessen zubereiten. Sie haben Gäste eingeladen, Anna und ihren Bruder Karl. Karl brauchte einige Zeit, um sich an ‚das Draussen' zu gewöhnen, aber er scheint sich jetzt eingelebt zu haben. Und er ist süss.

Vielleicht sind sie ja alle Wilde, aber ihr Leben hier fühlt sich so reich an.

Sie denkt kaum mehr an die Welt, welche sie verlassen hat, in welcher sie aufwuchs. Diese Welt ist wie ein Traum in schwarz und weiss. Sie wird Sven von ihr erzählen, wenn er alt genug ist. Aber für ihn wird sie nichts weiter sein als ein Märchen.

Rosie spricht manchmal von ihrem Haus am See, aber sie nennt es nicht mehr ihr Zuhause.

Leonie steht in der Türe und blickt zurück ins Dorf.

Zuhause, das ist jetzt hier.

Dann geht sie rein. Das Gemüse wartet darauf, geschnitten zu werden.

Welt der RuinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt