Eine erzählte und einige verschwiegene Geschichten

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Als sie vom Fluss zum Nachtlager zurückkehren, ist es bereits ziemlich dunkel. Leonie entfacht ein Lagerfeuer, dessen Rauch sich im Nachthimmel verliert. Dann teilt sie mit Anna ihr Abendessen.

Ihre Gedanken kehren zu den Dorfleuten zurück. Sie erinnert sich an die Kinder, die sie gesehen hat, und an deren seltsam lebloses Ballspiel.

"Wieso sind die Leute im Dorf gechippt? Wieso habt ihr ihre Gefühle geraubt?" fragt sie Anna.

Anna schüttelt den Kopf. "Die Chips rauben die Gefühle nicht, sie machen sie nur schwächer. Die Wiki sagt, dass die Chips es den Menschen erlauben, über lange Zeit zusammenzuleben ... ohne dass Streit entsteht, meine ich. Nur so konnten es unsere Vorfahren im Reduit über all diese Jahre aushalten. Nur dank der Chips haben sie sich nicht alle gegenseitig getötet oder sich selbst umgebracht. Verstehst du?"

Im Reduit? Leonie braucht einen Moment, um sich zu erinnern, dass diese Leute ihren Bunker so nennen.

"Aber die Leute im Dorf, die sind jetzt ja nicht mehr in eurem Bunker ... eurem Reduit. Wieso haben sie denn immer noch diese Chips?"

„Solange die Leute vom Dorf die Chips tragen, werden sie uns von ihrem Essen abgeben."

Leone fühlt wieder Wut in sich aufsteigen. „Und... findest du das richtig?"

Anna zuckt mit den Schultern. „Wir helfen ihnen dafür. Wir behandeln ihre Wunden und Krankheiten, wenn es nötig ist. Und wir bewahren das Wissen der Wiki."

„Habt ihr die Dorfleute jemals gefragt? Ich meine, gefragt, ob sie damit einverstanden sind?"

„Jan sagt", antwortet Anna, „dass wir diese Entscheidungen fällen müssen. Die Regierung, meine ich. Nur die Regierung hat das Wissen. Sie muss deshalb entscheiden."

Anna hält einen Zweig ins Feuer. Ihr Gesichtsausdruck ist verschlossen.

"Und wie viele seid ihr, im Bunker, im Reduit?" Leonie hat diese Frage schon einmal gestellt, am Nachmittag, und Anna hat sie nicht beantwortet.

Anna stochert in der Glut. Funken steigen hoch, aufgeschreckt durch die Bewegung des Stocks – feurige Motten zwischen den beiden Redenden. "Dreiundzwanzig." 

"So wenige?" Leonie hat mehr erwartet.

"Wir waren mehr. Bis vor etwa zehn Jahren. Damals ist ein Teil des Reduits eingestürzt. Viele Menschen wurden eingeschlossen." Annas Blick ist weiterhin auf das Feuer gerichtet. Sie schweigt.

"Was ist dann passiert?"

"Man hat versucht, die Eingeschlossenen freizugraben." Anna beisst sich auf die Unterlippe. Mit ihrem Zweig schlägt sie ins Feuer, und mehr Funken steigen hoch. "Sie waren zu spät. Den Eingeschlossenen ging die Luft aus. Sie sind alle gestorben."

Wieder macht sie eine Pause. Aber dann fährt sie weiter. "Dann hat Jan die Führung übernommen. Das Leben wurde schwieriger. Die meisten unserer Plantagen befanden sich im eingestürzten Teil und wurden zerstört. Es gab nicht genug zu essen für die Überlebenden. Und der Platz war knapp. Deshalb hat Jan alle Gechippten nach draussen schicken müssen. Sie sollten Essen anbauen."

Schweigend betrachtet Anna die Flammen vor ihr. Dann blickt sie Leonie plötzlich an. "Woher kommt ihr? Ich meine du und deine zwei Freunde."

Leonie hat befürchtet, dass Anna das früher oder später fragen wird. Sie will Anna nicht anlügen. Aber die Wahrheit erzählen? Sie hat das Gefühl, dass Anna ihr langsam Vertrauen schenkt. Wenn Leonie jetzt ihre Geschichte erzählt, wird sie ihr nichts mehr glauben.

"Das ist eine schwierige Frage", beginnt Leonie, ihren eigenen Blick jetzt auch ins Feuer gerichtet. "Und es ist eine lange, seltsame Geschichte ... eine Geschichte, die ich manchmal selbst nicht glaube. Eine Geschichte, die mir kein vernünftiger Mensch glauben wird." Sie blickt wieder zu Anna. "Und ich denke, dass du ein vernünftiger Mensch bist. Wenn ich dir meine Geschichte erzähle, wirst du denken, dass ich spinne. Oder ... dass ich dich anlüge."

"Weisst du", antwortet Anna, "ich denke nicht, dass du spinnst. Oder lügst." Sie lächelt.

"Danke. Aber meine Geschichte ... ich werde sie dir nicht erzählen. Nicht jetzt. Vielleicht später einmal." 

Falls wir Gelegenheit haben, uns besser kennenzulernen.

Sie hofft, dass sich diese Gelegenheit bieten wird.

Anna nickt. "Auch ich zwinge dich nicht zu reden", wiederholt sie die Worte, welche ihr Leonie am Nachmittag gesagt hat. "Aber ich würde deine Geschichte gerne hören ... wenn die Zeit dafür reif ist."

"Ja ... wenn die Zeit dafür reif ist. Dann werde ich sie dir erzählen. Dann wirst du mir vielleicht auch erzählen, wieso Jan ein Arschloch ist."

Annas Blick wandert nach draussen, in die Dunkelheit der Nacht. Sie sieht müde aus.

"Lass uns jetzt schlafen", sagt Leonie.

"Sind wir sicher hier?", fragt Anna, weiterhin den Blick auf die Fensteröffnungen gerichtet.

"Ja, ich denke schon. Wieso fragst du?"

"Was ist mit den Tieren?" Annas Ausdruck ist ängstlich.

"Ich habe schon oft draussen übernachtet", antwortet Leonie. "Es ist nie etwas passiert." Es wäre jetzt wohl nicht der beste Zeitpunkt, Anna von ihren Abenteuern mit den Bären zu erzählen.


Leonie liegt in ihrem Schlafsack und hört das Zirpen der Grillen. Im Licht der sterbenden Glut des Feuers sieht sie neben sich Anna, in die Felle eingehüllt, welche Leonie im Dorf geklaut hat. Ihre Atemzüge haben den langsamen Rhythmus einer Schlafenden. Leonie hat es nicht übers Herz gebracht, Anna über Nacht zu fesseln. Sie mag das Mädchen.

Durch die Türöffnung blickt sie nach draussen. Ein paar Sterne stehen am Himmel. Sie hört Annas Atem und geniesst es, nicht alleine zu sein.

Alles ist friedlich, und langsam schliessen sich ihre Augen.


Als Leonie wieder erwacht, ist es draussen hell. Durch die Türöffnung sieht sie das Leuchten der Berggipfel in der Morgensonne. Leise, um Anna nicht zu wecken, dreht sie sich um.

Annas Platz ist leer.

Blitzschnell steht Leonie auf und geht nach draussen. Von Anna fehlt jede Spur.

Welt der RuinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt