Späherin und Diebin in der Nacht

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Die Leute, welche Silvan und Jenna zum Fels geführt haben, sind schon fast zurück bei ihrem Dorf, als Leonie sie wieder sieht. Sie tauschen noch ein paar Worte aus. Dann gehen einige zu den Häusern, und andere begeben sich auf die Felder dahinter.

Leonie beobachtet das Treiben im Dorf und auf den Feldern. Es tut sich fast nichts. Auf einem Acker sind die Bewohner offenbar mit Jäten beschäftigt, eine unangenehme Arbeit, an welche sich Leonie aus ihrem früheren Leben mit leichtem Grauen erinnert. Ihre Mutter hat sie manchmal in den Garten geschickt, um unerwünschtes Grünzeug zu killen. Nur knurrend ist sie dieser unerfreulichen Tätigkeit nachgekommen. Und wenn sie dann damit begann, Pflanzen umzubringen, fiel ihrem Tun nicht nur bösartiges Unkraut zum Opfer, sondern manchmal erlitten auch andere Gewächse ein vorzeitiges, grausames Ende. So zum Beispiel die unkrautig aussehenden Sprosse der Blumen, welche ihre Mutter so mochte. Und dies führte regelmässig zu unerfreulichen Diskussionen.

Auch im Dorf tut sich nicht viel. Zwei Frauen sitzen vor einem Haus, damit beschäftigt, Kartoffeln zu schälen. Noch so eine unerfreuliche Tätigkeit.

In einem Gehege spatzieren einige Hühner. Sie gackern und picken lustlos am Boden rum.

Jemand öffnet ein Fenster eines der Häuser und hängt einen Lumpen oder ein Handtuch raus.

Zwei Kinder, vielleicht etwa zehn Jahre alt, treten aus einem Gebäude, gehen still die zentrale Gasse entlang und verschwinden in einer Art Scheune.

Die Rutine des Dorfs bietet wenig Interessantes. Leonie begibt sich nochmals hoch zum Tor im Fels, in der Hoffnung, dass sich dort mehr tut. Aber der Eingang ist immer noch geschlossen. Sie nähert sich vorsichtig. Der abgerundete Beton und die massiven Türflügel zeugen vom offensichtlich militärischen Ursprung der Anlage. Sie sieht weder Fenster noch eine Möglichkeit, das Tor von aussen zu öffnen.

Sie überlegt sich, ob sie, wie zuvor der langhaarige Mann aus dem Dorf, einen Stein aufnehmen und klopfen soll. Aber sie verwirft den Gedanken schnell wieder. Die Leute aus dem Bunker würden sie wohl ähnlich empfangen wie Silvan und Jenna.

Ratlos blickt sie das Tor an. Das Tor starrt zurück. Nichts passiert.

Den Nachmittag verbringt sie damit, abwechslungsweise das Dorf und das Tor zu beobachten. Beides bleibt langweilig. Das Tor ist geschlossen, und im Dorf der Bekifften tut sich kaum etwas. Es bleibt unklar, was der Grund für die unfreundliche Behandlung ihrer Freunde war.

Gegen Abend kehren die Leute von den Feldern in ihre Häuser zurück. Im Licht der untergehenden Sonne steigt Rauch aus den Kaminen auf. Der Geruch von kochendem Essen treibt Leonie das Wasser in den Mund.

Ein kühler Wind weht vom Tal heran. Sie wendet sich um und marschiert talabwärts, um sich einen Platz zum Übernachten zu suchen.

Sie findet einen geeigneten Unterschlupf in einer Ruine nahe am Fluss, etwa eine Viertelstunde vom Dorf entfernt.


Später, beim Abendessen, stellt sie fest, dass ihre Nahrungsmittel zur Neige gehen. In ihrem Rucksack findet sie noch ein paar Trockenfrüchte.


Sie wagt es nicht ein Feuer anzufachen und starrt in die zunehmend dunkle Landschaft. Die Luft ist schwanger mit Feuchtigkeit, und der Boden ist durchnässt vom nahen Fluss.

Ein Stück Holz liegt neben ihr am Boden. Mit aller Kraft schlägt sie damit gegen eine Wand. Das morsche Material zersplittert.

Nach all der Zeit in dieser Welt der Ruinen hat sie nun Menschen gefunden, aber was für welche. Ein paar Bekiffte in armseligen Hütten, und ein Haufen bleicher, bösartiger Militärheinis in einem Bunker. Und letztere knüppeln Silvan nieder, und schleppen ihn und Jenna in ihr Loch. Wie steinzeitliche Höhlenbewohner.

Sie hatte zwar Streit mit Silvan und Jenna, aber das geht zu weit.

Sie muss etwas unternehmen.

Sie trägt sich mit dem Gedanken, einen der Dorfleute zu kidnappen und ihn gegen Silvan und Jenna auszutauschen. Aber irgendwie zweifelt sie daran, dass das die Leute vom Bunker gross beeindrucken würde. Sie erinnert sich noch an die offensichtliche Geringschätzung, welche der Blonde aus dem Bunker den Leuten aus dem Dorf entgegengebracht hat.

Oder sie könnte sich mit den Leuten im Dorf zusammentun, sie zum Kampf gegen die Typen im Bunker anstiften.

Leonie und ihre Armee der Bekifften gegen die Militärzombies aus dem Berg.

Irgendwie tönt auch das nicht so toll.

Und was zum Teufel ist hier passiert? Wieso benehmen sich diese Menschen so eigenartig.


Die Kälte weckt Leonie schon vor dem Morgengrauen. Das kommt ihr gelegen.

Sie schleicht sich im Licht des bald untergehenden Mondes zum Dorf zurück. Dort ist noch alles ruhig.

Einen Moment lang stellt sie sich vor, wie es wäre, jetzt dort zu schlafen. In einem Haus, mit anderen Leuten, in einer Gemeinschaft. Dann schüttelt sie den Kopf. Nein, diese Leute haben ihre Freunde in den Bunker geschleppt. Das ist keine Gemeinschaft, der sie angehören möchte.

Sie fragt sich, ob sie Hunde im Dorf gesehen hat, kann sich aber nicht erinnern. Vorsichtig nähert sie sich den Häusern.

Schon gestern ist ihr ein Gebäude besonders aufgefallen, das eigentlich aus einem Erdhügel besteht, in welchen eine Türe eingelassen ist. Sie nähert sich der Türe und ist erleichtert, dass sie sich problemlos öffnen lässt. Der Geruch, der ihr entgegenschlägt, bestätigt ihre Vermutung, dass es sich um einen Vorratsspeicher handelt. Im Dunkel tastet sie sich vor. Ihre Hände erfühlen die typische Form eines Apfels. Weiter hinten ergreift sie etwas, das riecht wie Trockenfleisch. Schnell beginnt sie, ihren Rucksack mit dem zu füllen, was sie in der Dunkelheit findet.

Danach verlässt sie die Vorratskammer und schleicht zum nächsten Gebäude. Im schwachen Licht erkennt sie einen Speer, der neben den Eingang gelehnt ist. Der kommt ihr gerade recht. Und auf einer Bank daneben liegen ein paar Felle. Vielen Dank, sagt sie in Gedanken und lädt sie auf ihre Arme. Die Typen hier haben ihre Freunde gefangen – dafür können sie ihr wenigstens etwas Ausrüstung und Essen abgeben.

So leise, wie sie sich angeschlichen hat, macht sie sich wieder davon.

Sie steigt mit ihrer Beute vom Dorf zu ihrem Versteck am Fluss hinab und fragt sich, was sie jetzt tun soll. Trotz der unseligen Ereignisse in der Burg am See ist ihr klar, dass sie ihre Freunde nicht im Stich lassen wird.


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