Jäger und Sammler

231 27 132
                                    

Soundtrack: Ryder — Ruins

Zum Frühstück gibt's ... Wassersuppe.

Lustlos betrachtet Leonie den Kessel auf dem Feuer. Die Leere in ihrem Magen ist fast schmerzhaft. 

Eine Mischung aus Schweiss und Rauch steigt ihr die Nase hoch, wahrscheinlich aus ihrem Pullover. Aber sie braucht seine Wärme, über nacht ist es kälter geworden.

"Scheisse." Rosie beschreibt die Lage trefflich, findet Leonie.

Leonie schaut in die Runde ihrer Kameraden, die um das Feuer sitzen. Keiner sieht wirklich frisch aus.

"Was sollen wir jetzt tun?", fragt sie. "Wir brauchen etwas zu essen."

"Wir können noch mehr Äpfel holen", meint Jenna, "dort wo wir gestern welche gefunden haben."

Leonie denkt mit Schaudern an die Wölfe, die sie ebenfalls, fast neben diesen Äpfeln, gefunden haben. Aber beim Gedanken an die kleinen, schrumpeligen Früchte läuft ihr dennoch das Wasser im Munde zusammen.

Silvan steht auf. "Das ist eine gute Idee. Aber wir brauchen einen längerfristigen Plan. Wir werden mehr als nur Äpfel brauchen, wenn wir hier überleben wollen." Er blickt durch die leeren Fensterlöcher nach draussen.

Überleben

Leonie lässt das Wort in ihrem Kopf kreisen. Ein ungewohntes Konzept. Aber genau darum geht es hier. Sie nickt. Seltsam. Erst vor wenigen Tagen noch sass sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in einer Pizzeria, und ihr grösstes Problem war, dass sie sich nicht zwischen der Calzone und der Margherita entscheiden konnte. Sie blickt ins Feuer und muss lächeln.

"Findest du das lustig?" fragt Jenna, die Leonie gegenübersitzt. Ihre Stimme klingt gereizt.

Leonie erwidert ihren Blick wütend. Doch als sie Jennas Augen sieht, nahe an den Tränen, hält sie sich zurück. "Ich habe nur daran gedacht, wie schnell sich unser Leben verändert hat."

Klaus räuspert sich. "Die Äpfel sind fast reif. Das heisst, es ist Herbst. In wenigen Monaten wird es Winter sein. Es geht also nicht nur darum, etwas zu essen für heute zu finden. Wir müssen einen Vorrat anlegen. Und wir brauchen einen Ort, wo wir überwintern können."

"Wir müssen jagen", wirft Rosie ein. "Erinnert ihr euch an die Rehe, die wir gestern gesehen haben?"

"Ja", meint Silvan. "Wir brauchen Waffen. Waffen zum Jagen. Und um uns zu verteidigen ... gegen wilde Tiere."

Jenna steht auf. „Ist das euer Ernst?" Ihre Stimme ist gepresst, ihr Blick ist auf Silvan gerichtet. „So wie ihr hier schwafelt... ihr tut so, als müssten wir den Rest unseres Lebens hier verbringen. Ihr haltet das wohl für irgendein Abenteuercamp, aber ein lebenslanges." Sie holt Luft. „Ich will nicht hier blieben."

Rosie erhebt sich ebenfalls und legt ihre Hand auf Jennas Arm. „Ich möchte auch nachhause. Aber... aber solange wir nicht wissen, wie das geht..., können wir nichts anderes tun als... zu überleben."

Jenna presst die Lippen zusammen, dann setzt sie sich wieder und stützt den Kopf auf ihre Hände. Ihr Blick ist ins Feuer gerichtet.

Sie diskutieren weiter, was zu tun ist, und vereinbaren sich heute aufteilen. Eine Gruppe soll den Apfelbaum suchen und soviele Äpfel zurückbringen wie möglich. Die andere Gruppe bleibt in der Stadt. Beide Gruppen werden die Ruinen nach Brauchbarem durchsuchen.

"Ich gehe zum Apfelbaum", kündigt Silvan an. "Wer will mitkommen?"

Bevor Leonie reagieren kann, meldet sich Jenna. "Ich komme mit. Ich habe den Apfelbaum gestern ja gefunden." Ihre Stimme ist immer noch weinerlich.

Leonie ist einem Moment versucht, sich auch zu melden. Ein Ausflug mit Silvan wäre attraktiv. Aber mit einer übel gelaunten Jenna als Begleitung verliert der Gedanke seinen Reiz. Sie entscheidet sich zu schweigen.

Silvan nickt. "Gut, dann schauen sich Leonie, Klaus und Rosie in der Stadt um. Vor Sonnenuntergang treffen wir uns wieder hier."


Nachdem Silvan und Jenna sich verabschiedet haben, durchstreift Leonie mit Rosie und Klaus die Stadt. Sie betreten die Ruinen und stöbern in den Trümmern. Das meiste, das sie finden, ist nutzlos, vermodert, verrottet, brüchig.

Immer wieder stossen sie auf Knochen. Menschliche Knochen. Die meisten davon sind in den Gebäuden, einige draussen. Stumme, unheimliche Zeugen, nicht in der Lage, ihre Geschichte zu erzählen. Nutzlos. Leonie versucht sie aus ihren Gedanken auszublenden.

In einem der Gebäude entdecken sie einen grossen Raum. Überreste von Sitzreihen mit geplatzer, roter Polsterung geben ihm den Anschein eines Kino- oder Theatersaals. Im Halbdunkel stellt sich Rosie auf eine Bühne an einer Seite. „Meine Damen und Herren ... oder meine Dame, mein Herr", beginnt sie, „nach der kleinen Unterbrechung von ein paar hundert Jahren werden wir heute für Sie singen und tanzen."

„Nein", schreit Klaus theatralisch, „bitte nicht singen! Und auf keinen Fall tanzen! Wir wollen einen Film sehen, am liebsten Star Wars".

„Vergiss es", antwortet Rosie, „heute gibt es Star Dance." Kultur. Dann dreht sie sich in einer Pirouette um ihre Achse, gefolgt von einem Sprung in die Höhe.

Leonie erinnert sich an den Vorfall gestern in der Bibliothek, doch bevor sie etwas sagen kann, kracht die Bühne unter Rosie zusammen.

"Rosie", schreit Klaus und rennt auf die Staubwolke zu, die gerade noch eine Tanzvorstellung war. 

"Verdammte Scheisse." Rosies Kopf taucht aus einem Loch in der Bühne auf.

"Hast du dir weh gemacht?" Klaus hilft ihr aus den Überresten der Bühne.

"Geht schon." Rosies Simme ist gepresst. Es laufen ihr Tränen über die staubigen Wangen.

"Kommt, lasst uns von hier verschwinden", sagt Leonie.

Die anderen nicken.

Sie suchen weiter, vorsichtiger jetzt. Aber sie finden wenig, das von Interesse wäre.

Ihr Glück wendet sich, als sie ein Gebäude betreten, das früher offenbar einen Metallwarenladen beherbergte. Sie finden Messer und anderes Besteck. Leonie entdeckt eine halb verschüttete Metallstange mit einem Haken am Ende. Ein Schürhaken vielleicht. Er liegt gut in der Hand. Sie steckt ihn in ihren Gurt. 

Die drei entdecken auch einige Schüsseln, Pfannen und andere Gefässe. Was Platz findet, packen sie in ihre Rucksäcke. Sie beschliessen, später nochmals zurückzukehren.


Die Sonne steht schon fast im Zenit, als sie am Fluss ein paar Himbeeren finden. Die kleinen Beeren zu pflücken ist viel Arbeit, doch Leonies Hunger vermögen sie nicht zu stillen.

Nach der Malzeit setzen Rosie und Leonie sich zusammen ans Flussufer. Klaus stöbert weiter in den Ruinen rum. 

Die Sonne hat die Kälte des Morgens verdrängt, ihr Licht fühlt sich warm auf Leonies dunkler Hose an.

Sie betrachtet den Fluss, der vor ihnen dahinfliesst. Das Wasser befindet sich auf seinem Weg vom See zum weit entfernten Meer, wie seit Tausenden von Jahren – die Unruhe, die der Mensch in seinen Lauf gebracht hat, ist schon lange vergessen.

Rosie neben ihr ist eingeschlafen. 

Sollte ich nicht wach bleiben? Wache schieben?

Aber bevor sie eine Antwort auf die Frage findet, fallen auch ihr die Augen zu.

Welt der RuinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt