Anna

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Anna musterte die Oberfläche des Tisches, hinter dem sie sass. Sie war übersäht von Spuren, die ihre Generation und auch jene vor ihr darin hinterlassen hatten. Der Tisch war ihr Essplatz und ihr Schulpult, seitdem sie denken konnte. Sie kannte jeden Kratzer, jede Delle und jeden Fleck auswendig. Sie bewegte ihre Finger zärtlich über die vertrauten Konturen.

Sie hörte, wie jemand den Aufenthaltsraum betrat und blickte hoch. Jan. Er lächelte, als er sie sah. Das Lächeln liess sie erschaudern – es war selten ein gutes Omen.

Er näherte sich ihr, setzte sich neben sie und legte einen Arm um ihre Schultern. „Hey, Anna! Dich habe ich gesucht."

Sie fühlte, wie ihre Muskeln sich unter seiner Berührung anspannten, als wenn sie eine harte Schale zwischen ihrem verletzlichen Inneren und seiner besitzergreifenden Berührung schaffen wollten. Es war eine Gewohnheit von ihm, die Frauen so zu berühren. Zum Glück war das alles, was er tat, er ging nie weiter.

„Ich warte immer noch auf deine Antwort", sagte er.

Diese Worte halfen ihr nicht, sich zu entspannen – im Gegenteil. Sie wusste, worüber er sprach. Am liebsten hätte sie sich ganz klein gemacht und sich in einem der Risse versteckt, welche die Tischplatte durchzogen. Aber sie nickte.

„Du weisst ja, eigentlich warte nicht ich auf deine Antwort, sondern Adam", fuhr er fort. „Seit deinem sechzehnten Geburtstag sind nun schon einige Monate vergangen. Es ist also Zeit, Zeit für einen Mann. Und Adam ist ein guter Mann."

Adam. Jans grosser, verschwiegener Freund. Seine Frau war vor einigen Jahren gestorben, und jetzt suchte er nach einer neuen Gefährtin. Und in Jans Kopf hatte sich die Idee festgesetzt, dass Adam und Anna gut zusammenpassen würden.

Adam. Er erinnerte sie an die Wände aus rohem Fels in den tieferen Bereichen des Reduits. Unveränderlich, undurchdringlich, unergründlich.

Adam. Der Gedanke an ihn machte sie schaudern. Er war ein alter Mann, und sie fühlte sich wie ein Kind.

„Ich hab's dir schon gesagt", antwortete sie. Sie zog sich unter der Wärme seiner Berührung zusammen. „Ich bin ... noch nicht bereit."

„Du bist sechzehn – bereiter wirst du nie sein", sagte er mit einem Lachen, das sich wie ein Grunzen anhörte. „Adam wird nächsten Monat 35. Ich will eure Hochzeit dann verkünden."

Ihre verzweifelte Suche nach einer Antwort auf diese Bemerkung wurde von einem Geräusch unterbrochen – Schritte. Jan zog seinen Arm von ihren Schultern zurück und erhob sich. Anna entspannte sich etwas, aber die Knoten in ihrem Bauch blieben.

„Wir sprechen später", sagte er leise.

„Bist du bereit?" fragte Emma, die den Aufenthaltsraum mit Frank im Schlepptau betreten hatte.

„Ja", antwortete Anna. „Aber mein Bruder ist noch im Quartier."

„Zwanzig Minuten, bleibt nicht länger draussen", sagte Jan und blickte zuerst seine Tochter an, dann Frank.

„Ja, natürlich", antwortete Emma. „Und ich hab das hier bei mir." Sie deutete auf die Pistole in ihrem Halfter.

Jan nickte. „Gut. Ich geh ins Dorf und hol unser Essen. Wenn ich zurückkomme, könnt ihr trainieren gehen."


Das Draussen war für Anna jedes Mal unfassbar und erstaunlich. Es war so hell, so gross. Es war kalt, oder heiss. Der Himmel war so weit weg, dass sie Angst hatte, hineinzufallen – sie wusste, dass dies Unsinn war, aber sie musste jedes Mal ein Gefühl von Übelkeit unterdrücken.

Und dann gab es da die Gerüche. Immer anders, immer überraschend. Heute lag ein reiches Aroma in der Luft, etwas Pflanzliches. Sie vermutete, dass es von den Bäumen kam. Es waren Tannen. Es gab in der Heiligen Wiki Bilder von diesen Pflanzen – Jan hatte ihr erlaubt, sie anzuschauen. Sie zog sich die Luft durch die Nase und schloss einen Moment lang die Augen.

Welt der RuinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt