Pferde, und ein Blick ins Wasser

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Als Leonie am nächsten Morgen ihr Nachquartier verlässt, steht die Sonne im Osten schon hoch. Eigentlich ist sie eine Frühaufsteherin, doch vielleicht hat Klaus' Teufelswasser bleibende Schäden in ihrem Tag-Nacht-Rhythmus hinterlassen.

Sie blickt ins Tal. Die Rauchsäule ist immer noch sichtbar. Sie lächelt. Heute wird sie rausfinden, was es damit auf sich hat. Kein Bär der Welt wird sie davon abhalten können. Und auch nicht die dunkle Wolkenfront, die von Westen heranzieht.

Schnell packt sie ihre Sachen zusammen und steigt ins Tal ab.  

Der Wald im Talgrund ist dicht und das Vorankommen schwierig, bis sie eine langgestreckte Lichtung erreicht, die sich wie eine Schneise durch die Bäume zieht. Halb überwucherte Leitplanken am Rand zeigen ihr, dass es sich um eine Autobahn handeln muss, deren Fahrbahn mit Gras und kleinen Büschen überwachsen ist.

Etwa einen Pfeilschuss weit entfernt grasen einige Tiere. Zunächst hält Leonie sie für Rehe. Doch dann breitet sich ein Grinsen über ihr Gesicht aus. Pferde, mindestens zehn. Sie sind kompakt, hellbraun, Mähne und Schweif dunkelbraun, fast schwarz. Eines wiehert und blickt in ihre Richtung, dann setzt sich die Gruppe in Bewegung und verschwindet im Wald.

Einen Moment lang ist Leonie versucht, den Tieren zu folgen. Sie liebt Pferde. Sie stellt sich vor, wie sie davon einfangen könnte, um es dann zuzureiten.

Sie schüttelt den Kopf. Dazu ist sie nicht hier. Schweren Herzens macht sie sich wieder auf den Weg nach Südosten. Sie nimmt sich vor, später hierher zurückzukehren.

Der Wald hinter der Autobahn endet an einem Fluss. Er ist mehr als einen Steinwurf breit, angeschwollen vom grünblauen Schmelzwasser aus den Bergen. Das Donnern des Wassers dröhnt in ihren Ohren, und sie fühlt die kalte Gischt in ihrem Gesicht. Durchwaten oder Schwimmen scheint unmöglich.

Der Rauch ist schon deutlich näher. Aber er befindet sich auf der anderen Seite des Flusses. Nachdenklich betrachtet Leonie die Wassermassen.

Mit dem Boot wäre das einfacher gewesen. Falls Silvan und Jenna ihren Weg fortgesetzt haben, haben sie bestimmt auf der anderen Seite des Flusses angelegt.

Etwas ratlos folgt sie dem Wasser talaufwärts. 

Der Flusslauf macht einen Bogen und führt sie zur Ruine einer Brücke, von der nur noch zwei Enden an den Ufern vorhanden sind. Der Teil dazwischen fehlt. Hier kommt sie nicht rüber.

Sie geht weiter.


Die schwarzen Woken aus dem Westen holen die Sonne ein und legen die Welt in Schatten, als sie die nächste Brücke erreicht. Vorhanden ist noch ein verrosteter Stahlbogen, der sich über das Wasser spannt, wie der Pfeilbogen einer gigantischen Gottheit. Von einem zweiten Bogen sind nur noch der Anfang und das Ende vorhanden. Von der Fahrbahn, die früher offenbar zwischen den zwei Bögen aufgespannt war, ist nichts mehr übrig.

Sie geht zum Ende des Bogens auf ihrer Uferseite. Ihr Blick folgt seiner schlanken Kurve bis zu seinem höchsten Punkt, viele Meter über dem Wasser. Sie schüttelt den Kopf. 

Keine gute Idee. Definitiv nicht.

Sie stützt sich auf ihren Speer und blickt flussaufwärts, in der stillen Hoffnung, eine wunderschön breite, stabile und unversehrte Brücke zu erblicken. Aber dort stehen lediglich die Überbleibsel einiger Gebäude. Das Nächste, eine Tankstelle, trägt auf dem Dach ein Kranichnest. Eines der Tiere steht darin, seinen Blick auf das Wasser gerichtet. Ein Wächter dieses Königreichs der Natur.

Leonie schaudert es. Seitdem sich die Woken vor die Sonne geschoben haben, ist es deutlich kühler geworden.

Ihr Blick geht zurück zum Brückenbogen, der vor ihr einen Weg zum anderen Ufer bildet – wie eine spöttische Herausforderung.

Vorsichtig stellt sie sich mit beiden Füssen auf das rostige Metall. Die Oberseite des Bogens ist flach, etwa einen Fuss breit. Langsam, Schritt für Schritt, beginnt sie auf der ansteigenden Flanke hochzusteigen. Wie eine Seiltänzerin hält sie ihren Speer quer vor sich und sucht damit ihr Gleichgewicht. Schon bald befindet sie sich über dem Fluss und gewinnt beunruhigend schnell an Höhe. Sie blickt auf das Wasser, welches von links nach rechts unter der Brücke hindurchströmt, unangenehm tief unter ihr. Ihr Blick folgt einen Moment lang den wilden Wellen—und sie verliert das Gleichgewicht.

Sie stürzt auf die Knie und hält sich mit beiden Händen an den Rändern des Brückenbogens fest. Der Speer fällt, und hilflos sieht sie ihn im braungrauen Wasser verschwinden. Regungslos verharrt sie, ihren Blick immer noch ins Wasser gerichtet. Plötzlich hat sie das Bild ihres Vaters vor sich, der ihr vor Jahrhunderten aus den Wellen des Meers zugewinkt hat. Nein, nicht zugewinkt – um Hilfe gewinkt hat er.

Blut quillt zwischen den Fingern ihrer rechten Hand hervor. Das Metall, an welches sie sich festklammert, muss ihre Haut zerschnitten haben.

Ein kalter Windstoss aus den Bergen lässt den Brückenbogen vibrieren. Er gibt ein fast menschliches Geräusch von sich, ein tiefes Brumme, das unendlich müde tönt. Plötzlich hat Leonie das Gefühl, neben sich selbst zu stehen – federleicht in der Luft – und ihren Körper zu betrachten, der sich am Brückenbogen festklammert, wie ein seltsam magerer Marienkäfer an einen Grashalm. Und sie fragt sich, ob der Bogen all die Jahrhunderte nur darauf gewartet hat, ausgerechnet heute dem beharrlichen Ruf der Schwerkraft nachzugeben. Wird er sich nun, zusammen mit dem verzweifelt an ihm festgeklammerten Marienkäfer, in das ungeduldig wartende Wasser fallen lassen?

Nein.

Leonie schüttelt den Kopf und findet sich in ihrem Körper wieder, den Blick auf das rostige Metall gerichtet. Bewusst und langsam löst sie die rechte Hand und bewegt sie etwas nach vorne, um dort das Metall wieder zu ergreifen. Sanfter dieses Mal. Dann folgen ihr rechtes Knie, ihre linke Hand, ihr linkes Knie.

Sie arbeitet sich den Bogen entlang. Nach einer Ewigkeit merkt sie, dass sie den höchsten Punkt hinter sich hat und das Ufer näher kommt.

Als sie endlich die andere Seite erreicht hat, lässt sie sich ins Gras sinken und legt ihre Arme um die Beine. Ihre Hände und Knie zittern.


Sie hat es geschafft, sie hat den Fluss überquert. Dies ist die andere Seite – jene, von welcher der Rauch herkommt.

Welt der RuinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt