Flucht

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Die Sonne scheint. Aber es interessiert mich nicht. Alles, was mich interessiert, ist der nächste Schuss. Ronny bereitet das Heroin vor und gibt mir schließlich die Spritze. "Hier, Nea." Er hilft mir beim Abbinden des Armes und mit zitternden Fingern fülle ich meine leeren Adern mit dem flüssigen Gold.

Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Es ist ein bisschen wie Schweben. Es ist das Paradies. Es ist Weglaufen vom Alltag. Weglaufen vom Leben. Es ist eine Flucht.


Als ich klein war, hatte ich meinen ganz persönlichen Weg gefunden, um zu fliehen. Anfangs waren es Bücher. Dann war es die Musik. Dann war es der Sex. Und inzwischen ist es Heroin.

Als ich klein war und meine Mutter noch mit ihm verheiratet war, habe ich mir meine eigene Welt geschaffen. Jede Nacht, in der er zu mir kam. Jede Nacht, in der er stöhnend und keuchend über mir lag und mir die Luft zum Atmen nahm. Jede Nacht, in der er mich immer mehr in die dunkelste Ecke meiner Seele vertrieb. Jede Nacht, in der ich innerlich zweifelnd nach meiner Mutter schrie. Jede Nacht, in der er mir meine Unschuld raubte. Ich weinte zahlreiche Tränen, mit denen ich den ganzen Pazifik neu befüllen hätte können. Die Nacht wurde zum Feind. Der Tag zum besten Freund.

Tagsüber war er mein Held. Er half mir bei den Hausaufgaben, half mir beim Werken, half mir beim Lernen. Er war mein Held. Aber nachts war er der Bösewicht, gegen den die Superhelden kämpfen mussten.

Ich erschuf mir meine ganz eigene Welt. Mit vielen Superhelden, die mich vor ihm beschützten. Die eine dicke Mauer um mein Herz bauten. Die mich von der Gegenwart ablenkten und mich in diesen Momenten ganz weit weg holten. Anstatt meines eigentlichen Ichs erschuf ich eine stärkere, dunklere Nea.

Diese Nea sitzt mit Ronny im besetzten Haus und jagt sich Gold durch die Adern.

Diese Nea würde die kleine Nea zu gerne beschützen. Sie wäre für sie gerne die Superheldin, die sie als kleines Kind gebraucht hätte.

Als Kind verstand ich nicht, was das zwischen ihm und mir war. Er war nicht er, als er sich an mir verging. Er war nicht er, als er mir weh tat. Er war nicht er, als er mich schlug, weil ich weinte. Er war nicht er, als er mich festhielt und mich knebelte, damit ich keinen Mucks machte. Er war nicht er, als er mich anspuckte, nachdem er fertig war. Er war nicht er, wenn er bei mir war. Er war nicht er, wenn es dunkel war.

Ich war nicht ich, wenn es dunkel war. Die Dunkelheit ist mein größter Feind. Und sie verschlingt mich immer mehr. Sie ertränkt mich beinahe und ich bekomme keine Luft.


Ich wische die dunklen Gedanken beiseite und konzentriere mich nur noch auf das Gefühl. Ich flüchte.

Denn das konnte ich schließlich schon immer am Besten.


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