Die Straße vor mir ist leer. Bis auf eine Gruppe Jugendlicher, die an der Bushaltestelle stehen und rauchen. Sie sind laut. Sie lachen. Ich hasse es, solch eine Gruppe passieren zu müssen. Aber ich muss an ihnen vorbei, um zu meiner Wohnung zu kommen.
Als ich näher komme, sieht einer der Jungs auf und stößt seinen Freund an, der neben ihm steht. Innerhalb weniger Sekunden sind zwölf Augenpaare auf mich gerichtet. Ein Mund öffnet sich, um mich anzusprechen. "Hey, Doppelwhopper. Wie geht's? Heute schon gefressen?" Fünf Münder öffnen sich, um schallend laut zu lachen. "Boah, ist die fett."
Ich sehe auf den Boden. Das Lachen umhüllt mich wie ein Kokon. Ich gehe schneller und sie lachen noch lauter. Eigentlich höre ich so etwas nicht zum ersten Mal. Aber es tut immer wieder weh. Immer wieder. Und auch jetzt sammeln sich Tränen in meinen Augen, die ich wegblinzle.
Die Jungs haben inzwischen ein neues Thema gefunden. Doch der Kommentar bleibt mir den ganzen Tag im Kopf.
Nicht nur den ganzen Tag. Es war der Tropfen auf dem heißen Stein. Es ist der Satz, der meine Gedanken in eine neue Richtung lenkt.
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Das Spiegelbild, das mir entgegenblickt, ist blass. Es ist blass und fett. Ich kann mich kaum ansehen, denn mir wird schlecht. Mein Bauch ist eine Kugel und mein Gesicht wahnsinnig aufgedunsen. Ich wende den Blick ab und ziehe mich an.
Meine Klamotten sind groß und weit, um all das Fett auf meinen Knochen zu verstecken.
Ich bin hässlich. Ich bin nichts wert. Das ist das, was mir all die Menschen eingeredet haben.
Mein Magen knurrt. Aber ich muss stark bleiben. Ich darf nichts essen, meinen alltäglichen Apfel gibt es erst mittags. Zuerst muss ich in die Schule. Die Flasche Wasser packe ich als Wegration in meine Tasche. Ich muss viel trinken. Wasser ist gesund und gut für den Körper.
Die Menschen, denen ich begegne, sehen mich angeekelt an. Sie sehen mich. Sie sehen mein Fett. Ich fühle mich schlecht. Ich fühle mich klein und hässlich.
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Papa steht vor mir und hält mir eine Packung Nudeln vor mein Gesicht. Ich nehme sie und starre auf die Inhaltsangabe. Viel zu viel Kalorien. Viel zu viel von allem. Ich kann das nicht essen.
"Alina. Welche Nudeln möchtest du? Die, oder doch die Fussili?" Er sieht mich an, als ich ihm die Packung wieder in die Hände drücke.
"Papa. Ich habe schon in der Schule gegessen. Aber vielleicht könnt ihr mir ja etwas aufheben?"
Jenny, meine kleine Schwester, hüpft neben uns auf und ab. Wie ein Flummi. "Nudeln! Nudeln! Nudeln!" quäkt sie und zerrt an meinem Pulli.
"Aber bitte iss es dann. Ich habe die letzten Tage immer etwas für dich aufgespart, aber gegessen hast du nie. Du bist viel zu dünn, mein Schatz. Das macht mir Sorgen."
Ich lache und sehe an mir herab. All das Fett quillt aus meiner Hose, macht sich im Raum breit. Ich brauche viel zu viel Platz. Ja, es stimmt. Ich habe abgenommen. Aber ich muss noch mehr abnehmen. Ich muss dünn sein. Ich will nicht mehr länger als fett bezeichnet werden.
"Alina. Warum hast du so einen großen blauen Fleck auf dem Arm?" Jenny hat inzwischen aufgehört, herumzuhüpfen und sieht mich nun mit ihren großen braunen Augen an.
"Ich habe mich gestern an der Türe gestoßen, mein Herz."
"Aber warum bekommst du gleich so einen großen blauen Fleck?"
Ich nehme sie in den Arm und halte sie fest. "Ich hab dich lieb, kleine Maus."
"Aua. Du bist so knochig, Ali. Das tut weh! Iss doch mit uns ein bisschen Nudeln. Nudeln sind so lecker."
Bittend sieht sie mich an. Aber ich kann nicht. Ich kann einfach nicht. Ich möchte nicht das ganze Fett, das ich in den letzten Monaten abgenommen habe, wieder auf die Waage bringen.
Ich möchte mir einen Apfel nehmen, doch es sind keine mehr da.
"Papa. Wo sind die Äpfel?"
Er rührt in der Tomatensoße und seine Worte zwängen sich durch Jennys Gesang.
"Jenny hatte heute Lust auf einen Obstsalat als Nachtisch. Du kannst auch welchen haben - ich habe ihn extra mit ein bisschen Honig verfeinert."
Honig. Purer Zucker.
"Nein. Danke."
Inzwischen ist mir schlecht vor Hunger und mir wird schwindelig. Aus diesem Grund gehe ich in mein Zimmer. Ich lege mich auf mein Bett und schließe die Augen.
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Meine Augen sind geschlossen, aber ich höre Stimmen. Papas Stimme. Jennys Stimme. Und Mamas Stimme.
"Wird es ihr bald besser gehen, Michael? Sie sieht so dünn aus. So klein. Sie sieht so verloren aus in dem großen Bett."
"Sie wird zwangsernährt, Katja. Siehst du die Nadel?"
Mein Herz setzt aus.
Nein!
Ich merke, wie meine Hände zittern. Ich kann es nicht kontrollieren. Genauso wenig wie ich die Essenszufuhr kontrollieren kann. Krankenhaus. Zwangsernährung. Ich kann mich nur noch daran erinnern, wie ich in der Schule zusammengebrochen bin.
"Komm, wir holen Jenny. Vielleicht wacht Alina bald auf." Mamas Stimme legt sich wie Balsam um mein Herz.
Auch weiterhin stelle ich mich schlafend und warte, bis meine Familie wieder aus dem Zimmer ist und ich mir sicher sein kann, dass sie weg sind.
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"Ali!" Jennys Engelsstimme tanzt um mich herum, als sie sich auf mein Bett stürzt. Ich lächle.
"Mein Schatz, wir haben uns so große Sorgen um dich gemacht! Wir haben es schon ein bisschen befürchtet, aber die Ärzte haben bestätigt, dass du unter Anorexie leidest. Du darfst hier erst raus, wenn du zugenommen hast. Danach solltest du in Therapie." Mama klingt besorgt und ich lächle sie beschwichtigend an.
Ich möchte nicht mehr fett sein. Ich möchte leicht wie eine Feder sein. Federleicht. Ich möchte so abnehmen, dass ich kaum noch Platz brauche. Das ist das, was ich denke.
"Ja, Mama. Du hast Recht. Ich bin viel zu dünn. Es tut mir leid, dass ich euch Sorgen gemacht habe."
Ich klinge ruhig, ernst. Ich klinge wie jemand, der keine Lügen erzählen würde.
Dass ich den Inhalt des Tropfes seit Tagen in einer Teekanne gesammelt und anschließend weggekippt habe, das müssen sie ja nicht wissen.
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Kurzgeschichten
Short StoryEin kunterbuntes Sammelsurium an Kurzgeschichten. Mal Tränen, mal Freude, mal Leben, mal Tod. Es ist für jeden etwas dabei. Tretet ein, macht es euch bequem. ...