Wenn man beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen, kann einen nichts mehr davon abhalten. Keine netten Gesten von Freunden oder der Familie. Keine netten Gesten von Fremden. Keine netten Gesten von den Menschen, die man liebt.
Wenn man beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen, dann zählen für einen nur noch die Fragen Wie? Wann? Wo?
Wenn man beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen, dann sieht man kein Licht mehr. Man ist umgeben und umschlungen von Dunkelheit. Man sieht kein Licht mehr. Man sieht keinen Ausweg mehr.
Wenn man beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen, dann will man nicht mehr leben. Man kann einfach nicht mehr. Es geht einfach nicht mehr.
So geht es mir, als ich mich mit ihm treffe. Im Chat nannte er sich 'Crazyboi87'. Normalerweise treffe ich mich nicht mit fremden Personen aus dem Internet. Aber heute ist es mir scheißegal. Es ist der letzte Tag in meinem Leben. Es ist der letzte Tag in seinem Leben. Wir haben uns vor Monaten in diesem Depressions-Forum kennengelernt. Wir haben uns sofort gut verstanden, waren auf einer Wellenlänge. Irgendwann sprach ich meinen Plan aus. Ich weiß noch, ich zitterte und hatte Angst. Angst, dass er mich verurteilt. Angst, dass er es mir ausreden will.
Aber ich hatte Glück. Er ist mit von der Partie und wir sitzen im gleichen Boot. Es vergehen Monate, bis wir den perfekten Plan ausgeklügelt haben.
Sein richtiger Name ist Roman und wir umarmen uns, als wir uns sehen. Er ist dünn, fast schon zu dünn. Er trägt einen großen grasgrünen Pullover und eine blaue Jeans. An den Füßen trägt er schwarze Chucks und ich muss lächeln. Ich trage das gleiche Paar.
In meiner Tasche klappern die Schlaftabletten, als wir uns auf dem Weg zu den Klippen machen.
Die Dunkelheit hat mich eingeholt; sie hat uns beide eingeholt. Und ich sehe keinen anderen Ausweg, als diesem beschissenem Leben ein Ende zu setzen. Ich habe das Gefühl, es hat sich etwas Großes, Schweres, Schwarzes in mein Herz gefressen und mich nicht mehr losgelassen. Es hat mich verschlungen. Es hat all die schönen Momente gefressen. Es hat meine Freunde gefressen. Meine Liebe. Meine glücklichen Tage.
Die Dunkelheit hat mich mit offenen Armen begrüßt, während sich alle anderen lebendigen Wesen in meinem Leben immer mehr von mir entfernt haben.
Und jetzt ist es an der Zeit, die Dunkelheit als Freundin zu empfangen. Ich möchte eins werden mit ihr und mich vollkommen von ihr verschlingen lassen. Bis ich nicht mehr vorhanden bin. Und Roman ist der gleichen Meinung.
Wir haben einen Pakt geschlossen. Wir springen. Und wenn wir uns nicht trauen, dann nehmen wir Schlaftabletten. Ich hab' sie meiner Mama aus dem Schrank geklaut. Es fällt ihr eh nicht auf, da sie nie zu Hause ist. Und wenn, dann ist sie mit Mike, meinem kleinen Bruder, beschäftigt. Ich bin unsichtbar. Immer. Es wird an der Zeit, auch körperlich unsichtbar zu werden. Eins mit dem Meer. Eins mit der Erde.
Wir stehen auf den Felsen. Halten uns an der Hand. Unsere beiden Arme sind auch durch die Narben verbunden, die sich auf unserer Haut abzeichnen.
Mein Herz klopft. Ich freue mich auf das Ende.
Wenn man beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen, dann hat nichts mehr einen Sinn. Das ganze Leben hat keinen Sinn.
Ich stehe auf dem Felsen. Über mir die Nacht; kalt und klar, mit Sternen, so groß und schön, als wären sie greifbar. Unter mir die See; tosend, wild, rau. Jederzeit bereit, das ihr Gegebene für immer zu verschlucken und in ihre stille Tiefe zu reißen. Stille, die verlockend ist.
Ich denke an alles, das hinter mir liegt. Alles, was ich zu lieben und schätzen gelernt habe und auch wieder verloren habe. Ich denke an den Himmel, die Erde, das Leben. Ich erinnere mich. „Lebe wohl", flüstere ich und springe.
Und in genau diesem Moment bereue ich meine Entscheidung.
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Kurzgeschichten
Short StoryEin kunterbuntes Sammelsurium an Kurzgeschichten. Mal Tränen, mal Freude, mal Leben, mal Tod. Es ist für jeden etwas dabei. Tretet ein, macht es euch bequem. ...