Stitches

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Achtung - Triggergefahr! (aber ich glaube, das sieht man schon am cover. bald kommen wieder nettere geschichten. ich hab nur grad eine ... phase. :D )

"Und, wie ist das passiert?" Der Arzt näht meine Wunden mit einem schwarzen Faden und einer Nadel zu, die so aussieht, als hätte sie schon sehr oft diese Arbeit getan

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"Und, wie ist das passiert?" Der Arzt näht meine Wunden mit einem schwarzen Faden und einer Nadel zu, die so aussieht, als hätte sie schon sehr oft diese Arbeit getan. Das Nähen ist ziemlich unangenehm, aber nichts im Vergleich zu dem erlösenden Schmerz, als ich die Rasierklinge an meinen Arm gesetzt habe.

Ich mache es nicht oft. Wirklich nicht. Aber manchmal brauche ich das. Wenn in mir Leere herrscht, oder wenn ich sehr angespannt bin. Wenn ich einfach etwas spüren möchte.

Der junge Arzt sieht mich aus seinen klugen grauen Augen an und ich sehe schnell weg. Er weiß es. Er sieht meine anderen Narben. Narben, die schon sehr alt sind. Narben, die noch frisch sind und verheilen. Und Narben von Schnittwunden, die ebenfalls zusammengenäht wurden. Meine ganze Haut ist gezeichnet von Narben. Sie sieht aus wie eine Landkarte, oder als hätte jemand wahllos an meinem Arm herumgefuchtelt. Mit einem Messer. Einem scharfen.

Die Fliesen im Behandlungsraum sind weiß, ein bisschen grau. Als hätte jemand die Ecken in graue Farbe getunkt und sie mit Watte wieder abgewischt um diesen weichen Effekt zu erreichen. Ich denke an die getrocknete Farbe auf der Leinwand in meinem Zimmer. An die Pinsel, die auf ihren erneuten Einsatz warten. An die Leinwand, die unter der Last der Farbe zu ächzen scheint.

"Annika?" Die Stimme des Arztes durchbricht meine Gedanken wie ein Meteorit die Exosphäre. Ich schließe die Augen und hole tief Luft. "Annika. Du weißt, dass es Hilfe gibt. Es gibt Stellen, an die du dich wenden kannst."

Ich lächle und rolle mit den Augen. Ich will einfach nur, dass er endlich fertig wird. Ich möchte wieder nach Hause. Ich möchte weitermalen. Ich möchte in das Bild eintauchen und mich mit Farben bekleckern. Ich möchte in Farben ertrinken. Ich wünschte, ich würde einfach aufhören zu atmen.

Der Arzt ist fertig und hält meinen Arm sanft fest. An meinem Arm befindet sich nun eine weitere Wunde. Ein weiterer aufgezeichneter Schmerz, den ich verbal nicht nach außen tragen kann.

Wenn man sein ganzes Leben lang nur existiert, aber nicht lebt, dann wird es auf Dauer einfach viel zu schnell grau. Und dann schwarz. Und die Dunkelheit ist ein großer Teil von mir. Ich bin unsichtbar und werde nicht gesehen. Selbst, wenn ich alleine in einem Raum bin und jemand anderes läuft an mir vorbei, selbst dann werde ich nicht gesehen. Ich bin nicht bedeutend genug. Und niemand sieht mich. Niemand sieht Annika.

Ich habe aufgegeben, zu sprechen. Es lohnt sich nicht. Niemand hört zu. In dieser verkackt schnelllebigen Gesellschaft zählen nur Äußerlichkeiten. Es muss schnell gehen. Alles. Intensiv mit jemandem befassen? Nö. Wozu?

Alles ist ein Schauspiel. Meine Eltern wissen nicht, wie meine Arme aussehen. Wenn sie es wüssten, wäre die Hölle los.

Vor dem Fenster des Behandlungsraumes steht eine große Eiche, die das Behandlungszimmer in mildes Licht taucht. Am Himmel sieht man die Sonne, die sich bereits dem Abend entgegenneigt und sich auf ihren Freund, den Mond, freut.

Ich freue mich darauf, wieder aus dem Krankenhaus zu gehen. Aber im Moment wird mein genähter Arm von dem Arzt festgehalten.

Ich möchte, dass er loslässt; dass ich wieder atmen kann. Mir ist schlecht. Er sieht mich an, als würde er einfach alles über mich wissen.

"Annika. Brauchst du Hilfe?" Seine Stimme ist sanft, wie Sonnenstrahlen im Winter, die dich vorsichtig an der Nase kitzeln.

Er zögert und ich möchte nicht mehr weiter von ihm wissend angesehen werden. Ich stehe auf.

"Nein, danke. Auf Wiedersehen." Er lässt meinen Arm los und ich winke ihm zum Abschied. Er sieht mich nur mit gerunzelter Stirn an und schließt kurz die Augen. Ich möchte, dass seine Stirn wieder glatt ist, so als hätte ich sie gebügelt. Ich ertrage es nicht, dass er sich scheinbar Sorgen macht. Um mich.


Ich laufe durch die abendlichen Sonnenstrahlen und wünsche mir, sie könnten mich fort tragen. An einen anderen Ort; einen schöneren Ort. Auf dem Gehweg muss ich allen Leuten ausweichen. Niemand sieht mich. Niemand sieht mich an. Ich sage "Hallo" und keiner grüßt zurück. Als wäre ich ein Geist. Ein Geist, der nicht weiß, dass er ein Geist ist.

Die Wunde an meinem Arm scheuert gegen meinen Pulli und es tut weh. Aber ich lasse mir nichts anmerken.  Ich krame den Schlüssel aus meiner Jackentasche und öffne die Türe.

"Wie war dein Tag, Ani?" die Stimme meiner Mutter klingt wie flüssiger Bernstein. Gold. Rein. Warm.

"Gut, ich habe gemalt", antworte ich ihr. Meine Stimme kratzt.

"Gemalt? Und was?" Meine Mutter sieht mich mit angezogener Augenbraue an. Sie mag es nicht, wenn ich male. Sie meint, ich solle noch mehr für die Schule tun.

"Ach. Nur ein bisschen mit roter Farbe. Aber ich bin noch nicht fertig." Ich denke an die Rasierklinge, die neben meinen Farben liegt, und lächle.



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