Saphirblaue Steine fallen vom Himmel, als ich an ihm vorbeigehe. Ich werde nass bis auf die Haut, aber ich habe keinen Regenschirm dabei. Während alle Menschen vor dem Regen flüchten, laufe ich geradewegs hindurch.
Er steht mit seinen Freunden an der Bushaltestelle und unterhält sich mit ihnen, ich schnappe Wortfetzen auf, wie ein Wal, der kurz an die Wasseroberfläche taucht um Luft zu holen.
Kurz wünsche ich mir, sie würden über mich sprechen. Aber das tun sie nicht. Das tut niemand. Ich bin unsichtbar für alles und jeden.
Ich stehe im Regen, der sich anfühlt, als würden sich Eiskristalle in meine Haut fressen. Ich warte auf den Bus.
Er ist in meinem Jahrgang und ich sehe ihn stets in der Pause, mit seinen schwarzen Schuhen und der blauen Jacke. Seine braunen Haare sind immer so verwuschelt, dass es gewollt aussieht. Ich wünschte, ich wüsste, wie sich seine Haare anfühlen. Ich wüsste gerne, ob sie weich sind. Weich wie Seide. Oder wie das Fell eines kleinen Kätzchens.
Wenn es weiterhin so regnet, wird die Welt ertrinken. Aber das macht nichts. Dann bin ich endlich weg. Auffallen wird es eh niemandem, so unsichtbar wie ich bin. Man bräuchte blinkende Pfeile, um auf mich aufmerksam zu machen - selbst nicht mal dann würden sie mich sehen.
Ungeduldig trete ich von einem Fuß auf den anderen. Meine grünen Stoffschuhe sind bereits absolut durchnässt. Meine Socken sind nass und klamm. Mir wird langsam ziemlich kalt.
Sein Lachen fliegt über meinen Kopf hinweg, wie ein kleiner Vogel. Sofort habe ich Angst, dass seine Freunde über mich lachen. Aber dazu müssten sie mich erst einmal kennen. Ich schüttle den Kopf und einige Regentropfen lösen sich aus meinen Haaren. Als wären sie froh, wieder in Freiheit zu sein. Der Asphalt verschlingt sie wie ein schwarzes Loch.
Das Prasseln des Regens klingt in meinen Ohren wie Stimmen und ein kleines bisschen wie Applaus, wenn ich meine Augen schließe. Es ist, als stünde ich in einem großen Konzertsaal und tausende Menschen applaudieren. Ich bin müde. Und mir ist kalt.
Alles, an das ich denken kann, bist du. Nur du. Immer wieder du. Ich wünschte, du würdest mich einmal ansehen. Ich wünschte, du würdest mich sehen. Ich wünschte, du würdest mir ein Lächeln schenken. Ich wünschte, du würdest meinen Namen kennen.
Schritte. Schritte, die immer näher kommen. Ein Motorengeräusch und ich sehe auf. Der Bus kommt. Die Scheiben sind angelaufen und der Busfahrer sieht müde aus. Es muss anstrengend sein, immer für das Leben anderer verantwortlich zu sein. Die Türen öffnen sich mit einem leisen Quietschen und der Motor rattert. Als würde ihn jemand durchrütteln.
Ich lasse alle anderen vor, denn ich bekomme sowieso keinen Platz. Mir ist so unfassbar kalt. Ich sehe seinen Hinterkopf und seine wunderschönen Haare. Ich höre seine Stimme, die wie Bass klingt; Bass, der so laut ist, dass er in meinen Adern tanzt. Ich könnte ihm den ganzen Tag zuhören.
Mein Herz klopft. Plötzlich stehe ich hinter ihm und ich rieche seinen Duft. Er riecht nach Wildheit, Unabhängigkeit, Zufriedenheit und Glück. Er riecht wie eine Droge und ich verfalle dieser Droge immer mehr.
Er dreht sich um und mein Herz explodiert. Er sieht mir mit seinen schokoladenbraunen Augen direkt in die Augen. Seine Augen haben die Farbe von dunkler Schokolade; die, die ich am liebsten mag. Die herbe, aber doch mit einer süßen Note versehen. Der Regen taucht uns in Wasser und wir stehen da. Die Zeit bleibt stehen und ich kann einfach nicht wegsehen. Seine Augen sind einfach zu schön.
Doch ich habe Angst. Angst vor seiner Reaktion, wenn er erkennt, wer vor ihm steht. Dass es nur ich bin. Ich habe Angst, dass er merkt, was in meinem Herzen los ist. Ich habe Angst, dass er mir meine Gefühle im Gesicht ablesen kann. Ich habe Angst, ihm vor die Füße zu kotzen. Ich habe Angst, dass mein Herz gebrochen wird.
Aber die Angst verschwindet, denn er kennt ja nicht einmal meinen Namen. Als ich wegsehe, sehe ich gerade noch, wie sich ein kleines Lächeln in sein Gesicht stiehlt. Ich schlucke und sehe zu Boden. Seine Schuhe kommen näher und ich höre seinen Atem.
"Hallo, Nina", sagt er mit seiner ruhigen, rauen Stimme und ich sehe auf. In diesem Moment explodiert mein Herz und pumpt Blut in den ganzen Körper. Ich bin nicht mehr unsichtbar, denn ich leuchte nun wie die Tankanzeige eines Autos. Er lächelt und ich kann die Wimpern an seinen Augen zählen. Ich schlucke und möchte brechen. Meine Stimmbänder sind mit Steinen und Blei belegt und ich muss mich räuspern.
Die Schüler vor uns haben bereits den Bus betreten und der Busfahrer schließt die Türen, ehe wir uns bemerkbar machen können. Die ganze Zeit über hat er den Blick nicht von mir genommen. Es scheint, als warte er noch auf eine Antwort. Ich räuspere mich erneut und schlucke.
"Hallo, Chris", flüstere ich und habe das Gefühl zu schreien. Sein Gesicht wird von dem Lächeln gänzlich eingenommen.
"Lust, im Regen zu ertrinken?" Seine Frage schwebt zwischen uns wie eine Feder, die aus einem Kissen gefallen ist.
Ich nicke und nehme seine Hand. Er zieht mich mit. Mitten in die Kälte. Mitten in das Wasser.
Mitten in das Leben.
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Kurzgeschichten
Short StoryEin kunterbuntes Sammelsurium an Kurzgeschichten. Mal Tränen, mal Freude, mal Leben, mal Tod. Es ist für jeden etwas dabei. Tretet ein, macht es euch bequem. ...