Im Takt des Regens

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Du siehst ihn

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Du siehst ihn. Er geht an dir vorbei, den Blick streng geradeaus. Du weißt nicht, was du denken oder fühlen sollst. Alles überrennt und überrollt dich wie die Wellen im rauen Atlantik. Du weißt, wenn er redet, dann hat er immer ein Lächeln auf den Lippen. Du weißt, wenn er sich freut, dann strahlen seine Augen wie warmes Feuer.


Seine Stimme singt ein Lied, ganz für dich allein. Du kannst es schon beinahe mitsummen. Seine Stimmbänder vibrieren im Takt der Regentropfen, die unaufhaltsam aus den Wolken fallen. Auf dem Boden bilden sich Pfützen. Er sieht dich nicht. Und du kennst ihn nicht. Du hast nur einmal mit ihm gesprochen, ganz kurz. Als du dich in dem Schulgebäude noch nicht zurecht gefunden hast und jemanden nach dem Weg fragen musstest. Und es war ausgerechnet er, der den Gang entlang gelaufen kam, als du dir ein Herz gefasst hast. Und dann stand er da, in seinem Streifenpulli und sein Blick auf dich gerichtet. Auf dich, unscheinbares Wesen. Entgegen aller Erwartungen hast du dich nicht verhaspelt, du hast dich nicht blamiert. Er hat gelächelt und dir den Weg gezeigt. Er hat auch noch gelächelt, als du dich das zweite Mal bedankt hast.


Schon als Kind liebtest du den Regen und das Geräusch der fallenden Tropfen. Wenn man die Augen zumacht, dann hat es Ähnlichkeit mit Beifall. Du klammerst dich an seine Stimme wie an einen Strohhalm. Jeder Mensch der nett zu dir ist, macht dich nervös. Jeder, Mann, der nett zu dir ist, macht dich verlegen. Und ständig interpretierst du irgendetwas in Freundlichkeit.

Als würde sich jemand für dich interessieren. Bitte.


Sein Lachen überflutet den Raum wie Wasser, das die Scheiben durchbricht und sich seinen Weg in deine Lungen sucht. Du wünscht dir, dass du ihn zum Lachen bringen kannst; dass du der Grund bist, warum er lacht. Vielleicht bist du das auch, wahrscheinlich macht er sich über dich lustig, wie du vor ihm den Gang entlanggewatschelt bist und dich nicht auskanntest. Wahrscheinlich hält er dich für dumm. Womöglich denkt er nicht einmal an dich, warum sollte er auch? Ihr kennt euch nicht. Ihr begegnet euch nur manchmal im Flur. Aber du senkst deinen Blick auf den Boden. Du möchtest den Ekel in seinen Augen nicht sehen.


Du knabberst deine Fingernägel an, das machst du immer, wenn du nervös bist. Du magst das Geräusch und du magst das Gefühl. Die Bücher in deiner Tasche sind schwer und hindern dich am Laufen. Du hast das Gefühl, du läufst wie eine kleine dicke Ente. Draußen vor der Türe stehen die anderen aus deiner Klasse. Sie scheinen dich zu mögen, aber du fühlst dich wie ein Vogel inmitten von Fischen. Du möchtest fliegen, aber bist inmitten der Gruppe von Wassertieren gefangen. Sie ziehen dich auf den Boden des Sees und lassen dich nicht mehr los. Bis dein Gefieder durchtränkt ist und deine Lungen eins mit dem Wasser sind. Außer Anna. Anna ist ein Anker für die Lüfte. Immer, wenn zu viel Wasser in deine Lungen läuft, zieht sie dich wieder hoch. Durch sie vergisst du das Licht an der Oberfläche nicht.


Alle in deiner Gruppe unterhalten sich. In Gedanken versunken betrachtest du deine Hände, deine Fingerspitzen und die Nägel. Du betrachtest deine Schuhe und den Boden, auf dem sie stehen. Gerade überlegst du, ob du die Rillen am Boden zählen sollst, als du an deinem Jackenärmel gezupft wirst. Als hinge dort eine Kette, die der Wind wild hin und her schwingt. "Laila?" Anna sieht dich fragend an. Du versuchst dich an einem Lächeln. Sie sieht dich an und du weißt, dass sie die Lüge hinter den hochgezogenen Mundwinkeln erkennt. Sie erkennt alles, denn sie weiß selbst, wie es ist, wenn man äußerlich stark sein muss. Ein Seufzen verlässt deinen Körper. Der Wind trägt es gen Himmel, wo es sich verteilt und vielleicht wieder als Regen herunterfällt. Dann wird die Erde mit deinem Seufzen getränkt.


Dein Blick macht sich selbstständig und wandert über den Pausenhof. Deine Augen suchen jeden Zentimeter ab, werden immer hektischer, nachdem sie nicht finden, was sie suchen. Du musst dir deine tägliche Dosis abholen, ansonsten vermisst du ihn den ganzen Tag. Du vermisst ihn, obwohl du ihn nicht kennst. Du vermisst ihn, obwohl ihr ansonsten nicht viel miteinander gesprochen habt. Du bezweifelst, dass er sich überhaupt noch an dich erinnert. Du merkst Annas Blick auf dir, aber du kannst sie nicht ansehen. Möglicherweise könnte sie in deinen Augen lesen. Vielleicht steht darin, dass du an niemand anderen mehr denken kannst, als diesen Jungen. Deine Gedanken drehen frei, sie schlagen Flick-Flack, tanzen Samba und machen Saltos. In deinem Kopf herrscht ein einziges Chaos. Wie ein Meer an einem besonders windigem Tag, an dem der Wind duch deine Haare fährt, wie eine kratzige Bürste und die Gischt des Meeres dich mit einzelnen Tropfen so nass macht wie ein ganzer Regenschauer.


Es regnet und ihr stellt euch unter. Hier ist es trocken. Hier ist es eng. Und während du darüber nachdenkst, wie wenig Platz unter dem kleinen Vordach ist, wenn viele Schüler darunter stehen, hörst du seine Stimme. Sie untermalt das wunderbare Geräusch des Regens. Sie mischen sich und ergeben eine perfekte Harmonie. Du könntest ihm stundenlang zuhören. Er redet schnell, seine Freunde lachen und du riskierst es. Du wirfst einen kurzen Blick in die Richtung, aus der seine Stimme kommt. Und da steht er. Seine Haare sind nass, scheinbar hat er es nicht ganz so trocken unter das Vordach geschafft wie du. Aber er sieht wundervoll aus. Er lächelt und sein ganzes Gesicht wird dadurch erhellt. Seine Haare sind verwuschelt und seine Augen. Oh, seine Augen. Gerade richtet sich sein Blick auf dich. Er hat bemerkt, dass du ihn ansiehst. Schnell siehst du weg, deine Angst vor dem aufflammenden Ekel dir gegenüber ist größer. Also konzentrierst du dich wieder auf deine Fingernägel. Um deine Füße streicht der Kater, der der Schule zugelaufen ist. Anna streichelt ihn. Sein Fell sieht weich aus, wie Seide. Wie die Haare des Jungen.


Dein Herzschlag beruhigt sich etwas, aber du knetest nervös die Hände. Er hat dich angesehen. Er hat dich angesehen und weiß wahrscheinlich nicht einmal mehr, wer du überhaupt bist.


Er sieht dich nicht. Denkst du. Aber was du nicht wissen kannst ist, dass er dich immer ansieht, wenn du ihn nicht ansiehst.

Dein Herz schlägt im selben Takt wie der Regen. Seine Stimme fällt in den Rhythmus mit ein. Zusammen ergibt das ein Lied. Ein Lied, das ihr beide nur hören könnt, wenn ihr es euch gegenseitig vorsingt.

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