Krankenhäuser hatten seit jeher keine positive Ausstrahlung. Denn ich verband sie immer mit Verlust und Schmerz. Viele Familienmitglieder sind in einem Krankenhaus gestorben und ich habe mich in den hiesigen Räumen stets von ihnen verabschiedet.
Wenn jemand stirbt, der über 90 Prozent seines Lebens bereits gelebt und erlebt hat, dann bedauert man ihn meist nicht um das Leben, das noch vor ihm liegt. Schmerzhaft ist der Verlust allemal. Ich vermisse meine Familienmitglieder, Opa, Oma, meine Urgroßeltern, wirklich sehr. Und jeder von ihnen hatte einen eigenen Kampf auszufechten. Niemand hatte es leicht, jeder hatte zu kämpfen. Jeder hat gelitten.
Aber zu sehen, wie der eigene beste Freund durch dieses Arschloch Krebs das Leben aufgeben muss, das zerreißt einem das Herz. Er ist noch so jung. Er hat sein Leben noch vor sich, er hat noch nicht richtig gelebt. Auf der ganzen weiten Welt gibt es nicht viele Menschen, die gleich ticken; es gibt nicht viele Menschen, die die gleichen Gefühle fühlen und die gleichen Gedanken denken; es gibt nicht viele Menschen, die sich so nahe sein können und sich dennoch nicht auf die Nerven gehen. Und ich habe meine zweite Hälfte gefunden. Es hat lange gedauert und vorher habe ich auch viele Menschen gehen sehen - Menschen, bei denen ich dachte, sie würden mir bleiben. Aber sie sind mir nicht geblieben. Aber er, er ist mir geblieben. Dachte ich.
Und dann kommt Gevatter Tod und klopft an die Tür. Er hebt seine Sense, die bereits mit Blut überzogen ist; von deren Spitze das Blut der Verstorbenen tropft. Und mit dieser Sense kratzt er an die Zimmertür des Krankenhauses, in dem mein bester Freund liegt. Er wirkt in dem großen Bett absolut verloren, klein und einsam. Und ich möchte für ihn einfach nur der rettende Anker sein. Aber das kann ich nicht. Denn der Tod hat seinen eigenen Plan.
Vorgestern ging es ihm noch blendend. Er hatte das Gefühl, es gehe bergauf. Er hatte einen richtigen Aufschwung. Er war wieder lebensfroh. Und dann kommt der Tag der Operation und sie finden weitere Metastasen in der Bauchdecke. Viel mehr, als erwartet. Und die Ärzte beschließen, dass es keinen Sinn mehr macht, zu operieren. Es sind einfach zu viele. Sie geben ihn einfach auf. Sie geben einfach sein Leben auf. Sie geben ihm nur noch wenige Wochen. Und innerhalb eines Tages verlieren seine Augen an Glanz und Hoffnung. Innerhalb eines Tages verliert sein Herz an Kraft und seine Seele an Lebensmut. Innerhalb eines Tages wird aus meinem besten Freund eine fast leblose Hülle, die durch die Krankenhausflure schwebt.
Ich stehe an seinem Bett. Er ist zu schwach, um die Augen lange aufzuhalten. Nur ein kratziges Flüstern dringt aus seinem Mund.
"Bring mich hier raus, bitte. Ich möchte nicht im Krankenhaus sterben."
Und weil ich ihn liebe und er mir der beste Freund war, den man sich wünschen kann, erfülle ich ihm diesen Wunsch. Er lässt sich entlassen und ich bringe ihn nach Hause.
Er ist so verdammt schwach, aber seine Augen glänzen wieder ein bisschen. Er ist zu Hause, er stirbt nicht in einem sterilen, kalten Krankenhaus. Sondern in seinem Bett. Und seine Familie ist bei ihm. Und ich bin bei ihm. Er ist nicht alleine. Ich bin jeden Tag und jede Nacht bei ihm. Ich bin bei ihm, so oft es geht. Auch, wenn er mich ständig nach Hause schickt.
Aber ich würde mir nie verzeihen, wenn er in der Zeit, in der ich nicht da bin, die Welt verlässt. Er war mein Fels in der Brandung. Jetzt ist es an der Zeit, dass ich sein Fels bin. Wir waren unsterblich. Ohne ihn wäre ich nicht die, die ich jetzt bin. Und ich kann den Schmerz, der sich durch meine Adern frisst, nicht in Worte fassen. Es ist unbeschreiblich, wie sehr es wehtut.
Sicher, man weiß, dass niemand für immer lebt. Und irgendwann kommt immer der letzte Tag im Leben. Aber so schnell? Er ist noch so jung. Er hat noch so viel vor sich. Wir wollten noch so viel erleben. Er war eine Palette bunter Farben in meiner schwarzen Welt. Er war das Licht in meinem unbeleuchtetem Tunnel. Er war die Sonne für die Nacht. Er war alles für mich. Er hat mir beigebracht, mich wieder zu öffnen; wieder zu vertrauen.
Und einige Wochen nach der endgültigen Diagnose wird er mir genommen. Ich hatte Angst vor dem Moment, in dem er seinen letzten Atemzug tut. Ich habe seine Hand gehalten. Aber es hat mir das Herz bei lebendigem Leibe aus dem Körper gerissen. Mir wurde die Luft aus der Lunge gepresst. Meine Knie brachen ein und ich fiel zusammen, als hätte mich der Tod gleich mitgenommen. Und vielleicht will er das auch?
Wenn er mir ihn nimmt, dann kann er mich gleich mitnehmen. Aber ich darf nicht. Das Versprechen hat er mir abgenommen. Ich habe eine Liste. Eine To-Do-Liste. Und auf dieser To-Do-Liste stehen all die Dinge, die wir noch zusammen machen wollten. Und weil ich ihn so liebe, werde ich all diese Punkte abarbeiten. Und ich werde Fotos machen. Und ich werde ihm die Fotos ans Grab legen. Ich werde vor dem Tod weglaufen. Und ich werde so lange laufen, bis ich mit ruhigem Gewissen zu meinem besten Freund gehen kann. Und dann sind unsere Herzen und Seelen endlich wieder vereint.
Komm und hol mich, Gevatter. Komm und fang mich, wenn du kannst. Du magst vielleicht ein Söldner aller Seelen sein, aber ich möchte noch nicht mit dir ans Ufer des Todes fahren. Du magst vielleicht schon mit den Hufen scharren und auf meine Seele warten, so wie du auf alle Seelen wartest. Aber meine bekommst du noch nicht. Sie ist nur noch eine halbe Seele. Und halbe Seelen kann man schlechter fangen.
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Kurzgeschichten
Short StoryEin kunterbuntes Sammelsurium an Kurzgeschichten. Mal Tränen, mal Freude, mal Leben, mal Tod. Es ist für jeden etwas dabei. Tretet ein, macht es euch bequem. ...