Kapitel 4 || Der Langfinger ||

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|| Belal ||

„Haltet ihn! Haltet den Dieb!", hallte die Stimme eines Edelsteinhändlers über den Markt. Seit den frühen Morgenstunden war hier einiges los und überall wuselten die Menschen herum. Dienstmägde eilten von Stand zu Stand, um für ihre Herren den Vorrat wieder aufzufüllen.

Kinder in dreckigen und zerschlissenen Kleidern rannten zwischen den Menschen hindurch und stahlen ab und an etwas aus den vollgefüllten Taschen der Adligen. Aber nur die mit geschickten Handgriffen und viel Übung wurden niemals erwischt. Das wusste Belal, denn er war ebenfalls ein Langfinger, wie sich die gut organisierte Gruppe von Dieben selbst nannte.

Belal verzog angewidert das Gesicht, als eine Windböe den Geruch von Fäkalien aus der schmalen Gasse zu ihm herüber trug. Die verdunkelte Gasse bot ihm Schutz vor den wachsamen Augen der Wachen, die Ausschau nach Dieben hielten. Unauffällig band er sich sein rotes Tuch um den Kopf, damit sein Gesicht verhüllt war. Dann wagte er sich aus der stinkenden schmalen Gasse heraus und mischte sich unauffällig unter die Bürger von Soleil.

Soleil war die Stadt des Handels und des Reichtums. Hier lohnte es sich für jeden Langfinger, durch die belebten Straßen des Marktes zu schleichen und den Adligen und auch den Ständen ab und an mal etwas zu entwenden. Soleil war nicht nur für seine makellosen und einwandfreien Waren bekannt, sondern auch für den Menschenhandel. In Maa Tulee, dem Land des Feuers, war Menschenhandel und Sklavenhaltung gang und gäbe, keiner scherte sich darum, was mit den Sklaven passierte.

Vor einigen Jahren, als Belal noch ein kleiner Junge von elf Jahren gewesen war, wäre er beinahe den Menschenhändlern in die Arme gelaufen. Jedes Mal, wenn er einen dieser abscheulichen Menschen sah, erinnerte er sich wieder daran. Zum Glück hatte der Anführer der Langfinger ihn rechtzeitig aufgelesen und ihn unter seine Fittiche genommen, sonst wäre er nicht so glimpflich davon gekommen. Seit jenem Tag mischte sich Belal unter die reichen Bürger und stahl, wo er nur konnte. Doch seit einiger Zeit überkam ihn von Mal zu Mal das Bedürfnis nach seiner Herkunft und seiner Bestimmung zu suchen. Er wusste nicht, wo her er kam oder wer seine wahre Familie war.

Viele Heimatlose in Soleil hatten keine Familienangehörigen mehr oder wussten nicht mehr, wo sie einst das Licht der Welt erblickt hatten. Es war irgendwie normal und man dachte nicht darüber nach.

Unerkannt schlüpfte er an den Wachen vorbei in eines der zahlreichen verkommenen Gebäude und begab sich eilig in den Keller des Hauses. Dort wickelte er das Tuch ab und legte es sich um den Hals. Vor ihm erstreckte sich ein schmaler langer Gang. Die Steine waren von der Feuchtigkeit grün und glitschig und in dem gesamten Flur standen nur zwei kleine Fackeln. Am Ende des Ganges befand sich eine schmiedeeiserne Tür, an welcher Belal dreimal fest klopfte. Eine Klappe auf Augenhöhe wurde aufgerissen und zwei moosgrüne Augen starrten ihm grimmig entgegen.

„Kes reguleerib maa?", sprach der Wächter hinter der Tür. „Jero Yashar", antworte Belal leise. „Mis on teie nimi, pikk sõrme?", fragte der Wächter nach seinem Namen. „Belal Zaid"

Knallend wurde die Klappe zu geschlagen. Gleich darauf ging die schmiedeeiserne Tür quietschend auf. Erhobenen Hauptes schritt Belal durch die geöffnete Tür, nickte dem Wächter kurz zu, ehe er den Gang hinunter eilte. Stand man vor der Tür, flößte einem der Wächter Respekt ein, aber trat man einmal hindurch, verlor er seine Autorität.

Der Gang mündete in einen großen Raum, welcher von den Langfingern als Gemeinschafts -und Tauschsaal genutzt wurde. Es war im Prinzip der eigene kleine Markt des Untergrunds. Doch heute schenkte Belal dem Ganzen keinerlei Beachtung, denn sein Ziel war eine Tür, die zu Jero Yashar führte, dem Anführer der Langfinger und der Herrscher des Untergrunds.

„Komm herein", kam es dumpf von der anderen Seite der Holztür und Belal trat ein. „Was kann ich für dich tun?", wollte der Mann wissen.

Bevor Belal dem Anführer antwortete, setzte er sich in einen der Ledersessel, der vor einem mächtigen Holztisch stand. Der Arbeitstisch war über und über mit Dokumenten und beschriebenen Pergamenten bedeckt.

„Wachen sind in der Stadt. Sie sind überall und beobachten das Treiben auf den Straßen mit Argusaugen", berichtete er seinem Gegenüber. Dieser ließ sich seufzend in seinem Stuhl zurücksinken und tippte mit einem Finger an das Kinn.

Jero Yashar war ein mächtiger Mann, der sich ein Netz im Untergrund gesponnen und sich eine Armee von Dieben zusammengestellt hatte. Obwohl Jero schon ziemlich in die Jahre gekommen war, sah er stark und muskulös aus. Sein graues Haar hatte er zu einem Zopf in den Nacken gebunden Nur wies sein Gesicht Zeichen von Erschöpfung auf. Doch heure zeichneten sich dunkle Augenringe unter den müden, aber scharfen Augen ab und Falten umrahmten diese. Seine Wangen waren eingefallen und er besaß einen leichten Dreitagebart. Aber am deutlichsten zeichneten sich die Furchen auf seiner Stirn ab, welche Belal signalisierten, dass dem Anführer etwas Sorgen bereitete.

„Das bedeutet, dass der König persönlich hierher unterwegs ist. Für uns ist es einerseits gut, da wir viel Wertvolles abgreifen können, aber andererseits ist es schlecht, da wir doppelt so viel aufpassen müssen", sinnierte Jero Yashar mit müder Stimme. „Der König, was will er hier?", hakte Belal verwirrt nach.

„Der dicke Nichtsnutz will sich eine neue Gespielin kaufen, die ihm einen Bastarderben gebärt" Irritiert runzelte Belal die Stirn, es kam ihm seltsam vor, dass der König zum zweiten Mal in diesem Jahr nach Soleil reiste.

König Yuma Wyler kam normalerweise einmal in jedem Jahr und kaufte sich eine der Sklavinnen, damit diese ihm Erben schenkte. Belal wollte nicht darüber nachdenken, was mit den Frauen geschah, wenn er sich eine neue kaufen musste.

„Es ist ziemlich auffällig, dass er dieses Jahr das zweite Mal in die Handelsstadt reist.", gab Belal brummend von sich. „Was der König tut und was eben nicht, sollte dich nicht interessieren", knurrte Jero und stand ruckartig auf. Dann griff er nach einem gefalteten Pergament mit rotem Wachssiegel und reichte es Belal.

„Ich will, dass du das hier an Cadel Rune überbringst, wenn er hier eingetroffen ist. Achte gut darauf. Es ist von höchster Wichtigkeit, dass du es ihm persönlich überbringst. Wage es ja nicht, es an Dritte weiter zu reichen", warnte ihn Jero und ballte die freie Hand zur Faust, dabei knackten die Gelenke der Finger bedeutungsschwer.

Hart schluckte Belal. Dann nahm er das Pergament entgegen und ließ es in eine Tasche in seinem Gewand verschwinden. Er hatte vor nichts und niemanden Angst, doch Jero Yashar konnte selbst ihm Angst einjagen. Er hatte weniger vor der Person Angst, als vor dem besorgniserregenden Verhalten. Eilig verbeugte er sich vor Jero, welcher die Geste erwiderte. Dann flüchtete er Hals über Kopf aus dem Raum.

Im Gemeinschaftssaal blieb er kurz stehen und atmete erleichtert aus, ehe er weiter eilte und sich wieder unter die Menschen auf den Straßen mischte. In aller Eile hatte Belal vollkommen vergessen, Jero nach dem Aussehen des Empfängers zu fragen.

„He, pass doch auf wo du hinrennst!", beschwerte sich ein junger Mann mit länglichem und rot-schwarzem Haar. Die Haare waren auf einer Seite rot und schulterlang, auf der anderen Seite waren sie schwarz gefärbt und kurz rasiert. Ein Flammenmuster rundete die Frisur elegant ab.

Die Augen des jungen Mannes, welche ihm trüb entgegen blickten, besaßen rote Iriden mit schwarzem Rand. Die Gesichtszüge waren markant und seine Haut war rein, jedoch aschfahl, als hätte er niemals die Sonne zu Gesicht bekommen. Enge schwarze Klamotten schmiegten sich an den schlanken und muskulösen Körper des jungen Mannes.

Belal verzog den Mund zu einem halben Lächeln. Diese Geste vermittelte seinem Gegenüber jedoch eher Verbitterung, als Freundlichkeit.

„Man sieht sich immer zweimal im Leben", gab Belal geheimnisvoll von sich, zog sein Tuch tiefer ins Gesicht und verschwand in die Menge.

Was er nicht sah, war der neugierige Blick, mit dem der junge Mann ihm hinterher sah, als er sich unter die Leute mischte.

***
Kes reguleerib maa? = Wer regiert im Untergrund?
Mis on teie nimi, pikk sõrme? = Wie lautet dein Name, Langfinger?


Five Elements - Blazing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt