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»Wieso habe ich eigentlich keine Geschwister?«, beginne ich eins der unangenehmsten Gespräche überhaupt.

Es ist Freitagmorgen, ich habe erst zur dritten Stunde Schule und meine beiden Mütter sind noch daheim, Fia und Luca aber nicht. Was ich dementsprechend ausnutzen muss.

Ma fällt beinahe ihre Kaffeetasse aus der Hand, als sie von der Morgenzeitung hochsieht. Sie hat ihre Brille auf, muss wohl ihre Kontaktlinsen verlegt haben. Oder sie hat Kopfschmerzen, was kein gutes Zeichen wäre. Ab und an hat sie Migräne-Anfälle – zumindest nennt sie diese Tage so.  Ich weiß, dass sie in dieser Zeit der Vergangenheit nachhängt.

Großmutter Moon habe ich nie kennengelernt, sie ist gestorben, lange vor meiner Geburt. Und sie war auch keine gute Mutter. Ma redet nie von ihr, aber Tante Pennie erzählt ab und an von ihrer Kindheit. Von dem abwesenden Großvater Moon, von dem niemand je etwas gehört hat. Oder von den Strafen, die Ma bekommen hat. Weil sie anders war. Weil sie Mädchen liebte.

Das ist so unvorstellbar für mich. Wie Eltern ihre Kinder nicht lieben können. Wie Eltern ihre Kinder schlagen und beschimpfen und keine echten Eltern sind. Aus zweiter Hand weiß ich ja, wie viele Pflegekinder und Waisen es gibt. Auch sie haben kein schönes Leben. Muss scheiße sein, wenn die echten Eltern einen nicht wollten. Aber wenn man in einer Familie aufwächst, in der es keine Liebe gibt ... Muss mega scheiße sein.

»Du hast doch Geschwister«, springt Mum ein und wirft mir einen Muffin zu, den ich geschickt fange. Vielleicht hätte doch eine Sportskanone aus mir werden können.

Ich verdrehe die Augen. »Fia und Luca zählen nicht. Ich meine echte Geschwister. Wieso habt ihr euch nicht noch einmal künstlich befruchten lassen?«

Okay, ich merke wie ekelhaft dieses Thema eigentlich ist. Das ist ja als würde ich sie fragen, ob sie noch Sex haben. O Gott. Mir wird schlecht.

»Elias, fühlst du dich etwa einsam?«

»Mum«, stöhne ich, »musst du direkt wieder mit dieser Schiene kommen? Ich hab nur eine Frage gestellt, weil es mich interessiert hat. Ihr beide liebt Kinder, aber bevor Fia vor neun Jahren zu uns kam, waren wir meistens unter uns. Wieso?«

Ma und Mum schauen sich noch einen Moment lang an. Ma schweigt noch immer, was nicht zu ihr passt. Aber vermutlich an den Kopfschmerzen liegt. Ich hätte doch erst nacheinander mit ihnen darüber reden sollen.

»Ich konnte nach dir keine Kinder mehr bekommen«, bricht es aus Ma heraus, als ich schon gar nicht mehr mit einer Antwort rechne. »Es ... du ... es war ohnehin ein Wunder, dass du auf die Welt gekommen bist.«

Ich erinnere mich in diesem Augenblick an etwas, das Pennie und Ma mal wütend besprochen haben. Vor drei Jahren, vielleicht vier. Es ging dabei um eine OP.


»Du könntest schwanger werden, wenn du das machst«, sagte Tante Pennie.
»Ich bin zu alt für Kinder«, meinte Ma.

Manchmal kommt mir mein Hirn wie ein riesiges Sammelsurium an Erinnerungen vor, die ich alle habe und an die ich mich immer nur häppchenweise erinnern kann. Und jetzt habe ich Kopfschmerzen von all den Gedanken. Na danke.

»Tut mir leid, dass ich das Thema angesprochen habe.« Ich durchquere die Küche und drücke beiden jeweils einen Kuss auf die Wange. »Ich hab mich nie einsam gefühlt und ich bin froh, euch und den Rest zu haben. Es hat mich nur interessiert.«

»Schon gut, Elias.« Ma legt eine Hand an meine Wange. Ihre Finger sind rau und leicht mehlig, wie immer. »Manchmal vergesse ich, dass du schon erwachsen bist und reif genug, um gewisse Wahrheiten zu hören.«

Dass sie das Wort »gewisse« benutzt hat, wird mir erst viel später klar. Und ich frage mich, wieso nicht von »die Wahrheit« gesprochen hat.

Everyday at midnight {I look up to the stars}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt