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Okay, ich bin leicht nervös. Das darf ich aber auch sein, denn das hier, heute Abend, ist ein Date. Ein Fast-Date. Und ja, ich gestehe mir endlich ein, dass ich Jo mag. Irgendwie auf diese Weise. Es ist eben so, manchmal gehen Gefühle komische Irrwege, aber das macht sie nicht falsch.

Ich bin zuerst da, es ist aber auch erst dreiundzwanzig Uhr. So habe ich Zeit meine Stille auszukosten. Runterzukommen, die Gedanken auszuschalten. Dinge die ich früher schon getan habe. Das Handy mit eingeschalteter Taschenlampe lege ich neben mich. Ich will sie sehen.

»Ich hatte irgendwie Angst, dass du nicht kommen würdest.«

Mir ist nicht aufgefallen, dass sie gekommen ist. Hinter mir steht und die Hände auf die brüchige Lehne der Bank abgestützt hat. Ich war so sehr in meinem eigenen Kopf zurückgezogen. Verdammt.

»Wieso sollte ich nicht kommen?«, frage ich leise und drehe meinen Kopf zu ihr herum. »Du hast ...« Der Rest des Satzes stirbt auf meinen Lippen. Sie trägt keine Mütze auf dem Kopf, doch das ist nicht, was mich verstummen lässt. In einem Sprung stehe ich, klettere über die Bank. »Wer war das?«

Ihre Lippe ist aufgeplatzt. Ich erkenne dunkle Schatten um ihre Augen – Veilchen. Ihre Nase ist verkrümmt und um ihren Hals liegt ein deutlicher Schatten – Würgemale.

»Wer hat das getan?«, wiederhole ich meine Frage und will sie anfassen, was sie nicht zulässt. Sie weicht vor mir zurück und schüttelt vorsichtig den Kopf. Die Hände tief in den Ärmeln ihrer Sweatshirt-Jacke vergraben.

Der Knutschfleck, den ich glaubte gesehen zu haben, war in Wahrheit ein Hämatom. Ich war so eifersüchtig und blind, dass ich nicht die Realität erkannt habe. Da bin ich der Sohn einer Pädagogin und erkenne nicht die kleinsten Anzeichen für ein misshandeltes Mädchen.

»Ich will nicht darüber reden«, sagt sie und ihre Stimme klingt brüchig. »Ich wollte dich sehen.«

Keine Ahnung welche Sicherung in meinem Kopf durchgebrannt ist. Weiß ich echt nicht. Doch ich nähere mich ihr weiter, versuche noch einmal nach ihr zu greifen und diesmal lässt sie mich. Ich umfasse ihre Hände, drücke sie, streichle sie. Bevor ich sie küsse.

Kein Feuerwerk explodiert, es tanzen keine Glitzereinhörner vor meinem inneren Auge. Keine Schmetterlinge fahren Achterbahn in meinen Eingeweiden. Es ist nur ein Kuss. Und so viel mehr.

*****

»Bist du dir sicher?«, fragt sie mich.

Nein. Aber Sicherheit ist eine Illusion, der ich mich gerade nicht hingeben kann.

Nickend ergreife ich erneut ihre Hand und ziehe sie zu der Tür neben dem Eingang. Ich weiß nicht, wer heute Schicht hat, aber durch das helle Licht im Innern kann man ohnehin nicht sehen, was hier auf der Straße vor sich geht. Und ich bezweifle, dass die neue Aushilfe überhaupt weiß, wer ich bin oder wohin diese Tür führt. Nur wenige Menschen wissen, dass das gesamte Haus meiner Ma gehört und dass sie früher darüber gewohnt hat. Oder dass diese Eingangstür durch einen langen Flur zu den Hinterräumen des MoonHour führt, wo eine Treppe hochgeht.

Nach dem Kuss, aus dem Jo sich mit einem leisen »Aua« gelöst hat, wusste ich, dass ich etwas tun muss. Wer immer ihr das antut, darf sie nicht wieder bekommen. Da sie es aber standhaft ablehnt, zur Polizei zu gehen, nehme ich sie eben mit hierher. Es ist abgeschieden und solange Ma noch in Wien ist, kann sie hier bleiben. Danach werden wir weiter sehen. Vielleicht hat Jo sich bis dahin auch geöffnet und ich kann ihr richtig helfen.

Da hier schon lange keiner mehr wohnt, ist alles recht staubig. Doch die meisten Möbel stehen noch hier, sind mit Bettlaken abgedeckt, sodass wir auch gleich Decken und improvisierte Kissen haben.

Beim Hinsetzen auf dem Bett bemerke ich, dass Jo ihr Gesicht verzieht und nur stocksteif dasitzen kann. Wut steigt erneut in mir hoch. Wer immer ihr das antut ... wer immer so etwas tun kann ...

»Elias?«, reißt sie mich aus meinen Gedanken und vorsichtig entkrampfe ich meine Hände, die zu Fäusten geballt an meiner Seite herunterhängen. Ich darf mich nicht hinreißen lassen oder ausflippen. Nicht vor ihr. Es ist wichtig, jetzt Ruhe zu bewahren und ihr ein Gefühl der Sicherheit zu geben.

»Wo hast du noch Verletzungen?«, frage ich und versuche meine Atmung zu kontrollieren. Was mir nicht gerade leicht fällt. Ich habe ja schon erzählt, wie sehr mich die Ungerechtigkeit der Welt aufregt und dass ich mich dafür prügeln kann. Das hier ist noch eine Stufe schlimmer.

Statt etwas zu sagen, greift Jo nach dem Verschluss ihrer Jacke und zieht ihn hinunter. Mir steigt das Blut in die Wangen, als ich erkenne, dass sie darunter nur einen BH trägt. Doch das Schamgefühl wird schnell von noch heftigerer Wut abgelöst. Ihr Brustkorb ist bläulich verfärbt. Hämatome, die älter aussehen, paaren sich mit frischen Wunden, werden dabei begleitet von Schnittwunden, die kaum eine richtige Wundkruste anlegen konnten. Welches Monster auch immer Jo diese Verletzungen zugefügt hat, muss leiden. Muss leiden, wie sie so offensichtlich leidet.

»Wurdest du –« Gott, was brabble ich hier eigentlich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll und spreche dann ausgerechnet das Falsche an. So bin ich. Ein kompletter Vollidiot.

Zu meinem Glück schüttelt Jo den Kopf und lehnt sich zaghaft nach hinten, um sich hinzulegen. Sie hat schon verraten, dass sie nicht viel geschlafen hat in den letzten 48 Stunden. Und ich gönne ihr die Ruhe. Auch wenn ich mir keine gönne.

Everyday at midnight {I look up to the stars}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt