Spielt es eine Rolle

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„Aufstehen, Talente", dröhnt es aus dem Lautsprecher in meinem Zimmer. Wie jeden Morgen schlurfe ich ins Bad und beginne meine Haare zu bürsten. Und wie jeden Morgen gebe ich es kurz darauf auf, weil ich meine dunklen Locken sowieso nie bändigen können werde. Verschlafen putze ich mir die Zähne und wasche mir anschließend mein Gesicht. Ich schaue nicht in den Spiegel, da mir nur wieder diese hässliche Narbe auf meiner rechten Wange auffallen würde. Wut lodert in mir auf. Wäre Cat nicht gewesen, könnte ich mein Spiegelbild jetzt ohne Bedenken ansehen. Aber meine Trainerin hat mich bewusst und mit voller Absicht mit einem Messer geschnitten. Natürlich streitet sie alles ab. Aber sie weiß, dass ich manchmal unkonzentriert bin, weil ich immer so schlecht schlafe. Cat hätte mich morgens nicht so hart fordern dürfen. Als ich mit anderen Trainern der Akademie über den Vorfall gesprochen habe, waren sie begeistert. „Jetzt wirst du bei den Hungerspielen auffallen und Sponsoren gewinnen. Distrikt 4 braucht endlich eine neue Siegerin", haben sie gesagt. Ich schnaube aufgebracht. Um mich abzulenken ziehe ich mir schnell meinen Trainingsanzug an und gehe in die Cafeteria der Akademie.

Ich sehe kurz auf das schwarze Brett, auf dem unsere Ernährungspläne angebracht sind und nehme mir die vorgeschriebenen Lebensmittel. Unsere Trainer und Ärzte erarbeiten wöchentlich neue Pläne um uns in jeder Hinsicht zu einem besseren, möglichen Tribut zu machen. Ich esse abseits von den anderen Jugendlichen. Sie würdigen mich keines Blickes, weil sie mich als schwach einstufen. Aber ist es eine Schwäche, wenn man andere Menschen nicht verletzen oder ermorden möchte? Plötzlich breitet sich ein Kribbeln in meinem Nacken aus. Ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer mich als Einziger beobachtet. Taylor. Zuerst versuche ich seinen Blick zu ignorieren. Vielleicht irre ich mich ja auch und ich werde gar nicht beobachtet? Ich rühre einige Male mein Müsli und schiebe mir einen Löffel der in Quark gebadeten Flocken in den Mund. Ich schließe die Augen. Unter den Früchten in dem Müsli sind diesmal Erdbeeren, mein Lieblingsobst. Das Kribbeln in meinem Nacken verdirbt mir allerdings den Genuss. Langsam drehe ich mich um. Ich sehe Taylor für einen langen Moment in seine blauen Augen. Vielleicht kommt er selber auf die Idee, dass es mich stört, wenn er mich die ganze Zeit beobachtet... Doch er denkt gar nicht daran. Stattdessen fährt er sich mit einer Hand durch die blonden Haare, die im Licht der Mensa schon fast weiß aussehen und zwinkert mir zu. Ich muss mir ein Lachen verkneifen. Warum manche Jungen nur immer denken, dass sie unwiderstehlich aussehen? Ich wende mich von Taylor ab und frühstücke weiter. Plötzlich ruhen Hände auf meiner Schulter. Mein jahrelanges Training zeigt Erfolg. Denn ohne großartig darüber nachzudenken, ramme ich meinen Ellenbogen in die Magengrube desjenigen, der mich ungefragt berührt. „Was soll der Mist, Lou?" Taylor verschränkt die Arme vor seinem Magen. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt. „Wir werden hier zu Killern ausgebildet. Was meinst du, was ich tue, wenn mich jemand ungefragt von hinten packt?" „Ich würde dich doch nicht umbringen!" Ich stehe auf und bringe mein Tablett und die leere Schüssel weg. Taylor folgt mir. „Willst du etwas Bestimmtes?", frage ich ihn ruhig. Es wäre reine Energieverschwendung sich über ihn aufzuregen. „Ich wollte dich fragen, ob wir nachher zusammen trainieren wollen." Ich schenke ihm ein Lächeln, auch wenn es nicht ganz echt ist. Schließlich möchte ich keine Feinde in der Akademie. „Es tut mir Leid, aber ich wollte nachher Messerwerfen üben. Solange du nicht mein Zielobjekt sein möchtest, wird Teamarbeit schwierig." „Ach... Schwertkampf ist sowieso cooler." Ich sehe zu Taylor auf, der mich schief angrinst. „Feigling", ziehe ich ihn auf. Taylor gibt sich alle Mühe empört zu gucken, doch es gelingt ihm nicht. Gemeinsam gehen wir in die Trainingshalle. „Vielleicht können wir später noch zusammen trainieren!?" Ich unterdrücke ein Seufzen. „Warum nicht?" Erneut zwinge ich mich zu einem Lächeln, dann gehe ich zu den Messerübungen.

Zum Aufwärmen kreise ich meine Arme und dehne mich. Anschließend stelle ich mich fünf Meter gegenüber eine Zielscheibe. Ich hole aus. Natürlich bleibt mein Messer in der Zielscheibe stecken. Ich gehe weitere fünf Meter zurück. Um meine Konzentration zu bündeln atme ich einmal tief ein. Beim Ausatmen werfe ich das Messer. Zweiter Treffer. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Erneut trete ich fünf Meter zurück. Gerade will ich meine Muskeln anspannen, als ein markerschütternder Schrei durch die Trainingshalle dröhnt. Waffen klirren, andere Rufe ertönen. Orientierungslos suche ich nach der Quelle des Lärms. Einige Jugendliche tummeln sich um die Schwertübungen. Mit einer bösen Vorahnung gehe ich zu den Anderen.

Geschockt schlage ich die Hand vor den Mund, dann knie ich mich zu dem Jungen, der am Boden liegt. „Taylor! Was ist passiert?" „Er war zu langsam. Schwächling." Purer Hass lodert in mir auf, als Cats Stimme hinter mir ertönt. „Warum holt denn niemand einen Arzt?", frage ich leicht panisch an die Umstehenden gewandt. Endlich reagieren einige. „Taylor. Alles wird gut." Ich zwinge mich die Wunde an seinem Bauch zu begutachten. Seine Sportkleidung ist bereits blutgetränkt. „Lou, falls du gezogen wirst... Du musst für mich gewinnen. Wenn nicht, drehe ich mich im Grab um!" Meine Unterlippe bebt. Erst jetzt realisiere ich, dass Taylors Gesichtsfarbe eine unnatürliche Färbung annimmt. Tränen wollen sich ihren Weg über seine Wangen erkämpfen, doch er lässt es nicht zu. Dafür ist er zu stolz, zu tapfer. Haben meine Eltern auch geweint, als sie damals gestorben sind? Haben sich ihre Tränen mit dem Salzwasser der Flüsse und Meere vermischt, als dieses verdammte Bootsunglück geschah? „Lou, ich..." Plötzlich erschlafft etwas in meiner Hand. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass ich Taylors Hand ergriffen habe. „Nein..." „Alle zurück an die Stationen. Hier gibt es nichts mehr zu sehen."

Ich kann nicht fassen, dass unsere Trainer uns das antun. Doch innerhalb der Jahre an der Akademie habe ich gelernt, wie man seine Gefühle verbergen kann. Deshalb stehe ich auf. Ich stelle mir vor, dass ich eine Marionette bin und die Trainer, der Oberste Spielmacher, nein, Präsident Snow die Fäden in den Händen hält und mir befielt ein guter möglicher Tribut zu sein. Meine Hand zittert, als ich nach dem Messer greife. Ich entferne mich so weit von der Zielscheibe, wie ich es noch nie zuvor getan habe. Dann atme ich ein und werfe. Den Schrei, der mir entfliehen will, kämpfe ich nieder. Mein Atem geht stoßweise und mein Messer hat sein Ziel nicht verfehlt. Als wolle es mir sagen, dass der Tod von Taylor keine Rolle spielt...

Blut schmeckt salzig Rache ist süß Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt