„Komm mit, Junge!" Ein Friedenswächter packt mich grob am Arm und führt mich aus dem Justizgebäude. Murrend übergibt mich der Friedenswächter einem Kollegen, der vor einem Auto auf mich zu warten scheint. Energisch reißt dieser die Autotür auf und knurrt: „Rein da!"
Ich habe gar keine Chance mich zu wehren und lasse mich einfach auf das abgenutzte Polster sinken. „Hallo, mein Lieber. Schöner Tag, nicht wahr?" Fassungslos sehe ich die Frau an, die daran schuld ist, dass ich in diesem Jahr Distrikt 9 als Tribut vertreten muss. Ich schweige und mustere Salvia. Ihre lichtblauen Haare hat sie auf eine merkwürdige Art auf ihrem Kopf zu einem Knoten auftürmen lassen. Dieses Konstrukt ist mir während der Ernte bereits aufgefallen. „Du scheinst ja sprachlos zu sein, mein Lieber. Aber das wäre ich an deiner Stelle auch. Schließlich beginnt heute eine ganz neue Ära für dich. Bald wirst du das Kapitol sehen, mein Lieber." Salvia kichert aufgeregt. Ihre Art ist auf beunruhigende Art ansteckend, weshalb ich mir ein Lächeln nicht verkneifen kann.
Die Autotür wird erneut aufgerissen und ein Rotz und Wasser heulendes Mädchen wird rechts von Salvia auf den Sitz gedrückt. „Wenn du nicht stillhältst, müssen wir dich leider betäuben", schnaubt ein Friedenswächter. Aus großen Augen sieht das Mädchen den Mann an. Verschreckt beißt es sich mit den überdimensionalen Schneidezähnen auf die bebende Unterlippe. Nun rinnen ihre Tränen geräuschlos über die geröteten Wangen. „Na hören Sie mal! Das Kind ist ja ganz verschreckt. Was fällt Ihnen ein, dem Mädchen seinen großen Tag zu verderben?!", empört sich Salvia und macht Anstalten, dem Friedenswächter mit einem blauen Fächer auf seine Uniform zu schlagen. Doch dann wird ihr anscheinend bewusst, dass sie sich nur Ärger einhandeln würde, weshalb sie ihren Arm sinken lässt und fahrig ihr blaues Kleid glattstreicht. Zufrieden knallt der Friedenswächter die Tür zu. Ein Ruck fährt durch das Auto.
„Nicht weinen, Kleine. Es ist alles gut. Die bösen Männer tun dir nichts, solange ich bei dir bin." Ich weiß nicht, was ich von unserer Betreuerin halten soll. Einerseits ist es natürlich großartig, dass sie dem Mädchen die Angst zu nehmen versucht. Doch andererseits scheint sie den Ernst unserer Lage vergessen zu haben. Denn die bösen Männer sind nur unser geringstes Problem. In Wirklichkeit sind es alle anderen Jugendliche, die heute ebenfalls auf den Weg ins Kapitol sind.
„Ihr könnt euch darüber freuen, dass wir bald im Zug sitzen. Dann müsst ihr euch nicht länger diese stinkenden Fabriken ansehen." Ich ignoriere Salvia und schaue aus dem Fenster. Unsere Betreuerin hat ja keine Ahnung! In dieser Fabrik habe ich die coolsten Jungen aus dem ganzen Distrikt kennengelernt. Mit Raine und Wern habe ich so viel erlebt und das alles soll ich nun hinter mir lassen? Wie viele Mutproben entgehen mir jetzt wohl? Ob die Beiden schon etwas Neues planen? Obwohl... Die schlimmste Mutprobe steht mir doch gerade bevor. Ich werde andere Jugendliche töten müssen.
„Dahinten wohnt meine Cousine", meldet sich plötzlich das Mädchen zu Wort. Wie heißt sie denn nochmal? Irgendwas mit ... Phoebe, richtig! „Hast du sie oft gesehen?", fragt Salvia liebevoll. Anscheinend scheint sie sich genauso sehr darüber zu freuen, wie ich, dass Phoebe endlich zu weinen aufgehört hat. „Nein. Aber jedes Mal, wenn wir uns gesehen habe, hatten wir immer richtig Spaß!" Ein Leuchten tritt in Phoebes große, blaue Augen. „Das glaube ich dir. Was habt ihr denn zum Beispiel unternommen?" Phoebe lächelt versonnen in Richtung der endlosen Kornfelder. „Wir sind oft schwimmen gegangen. In der Nähe von Annies Haus gibt es einen Tümpel. Annie hat mir das Schwimmen beigebracht", verkündet Phoebe stolz. Sie kann also schwimmen. Das darf ich nicht vergessen.
„Und du, Georg? Kannst du auch schwimmen?", wendet sich Salvia nun an mich. Wahrscheinlich will sie nicht, dass ich denke, dass sie Phoebe bevorzugt. Doch was soll ich antworten? Wenn ich ehrlich antworte, weiß Phoebe, dass ich ebenfalls mit dem Wasser vertraut bin. Aber soll ich wirklich jetzt schon zu lügen beginnen? „Nicht sehr gut" sage ich ausweichend. So habe ich wenigstens nur zur Hälfte gelogen. „Das macht nichts, Schätzchen. Dafür kannst du bestimmt andere Dinge gut." Ich nicke und sehe wieder aus dem Fenster, damit Salvia nicht auf die Idee kommt mich nach diesen besagten Stärken zu fragen.
„Da vorne ist der Bahnhof", ergreife ich zum ersten Mal als Erster das Wort. „Du hast Recht, mein Lieber." Überrascht sehe ich zu Salvia, als ich die Nervosität in ihrer Stimme höre. „Hört zu, Kinder. Vor dem Bahnhof werden viele Kamerateams und Reporter auf uns warten. Ich verbiete euch, sie abfällig zu behandeln, ihnen die Zunge rauszustrecken oder sonst etwas Unanständiges zu tun. Habt ihr mich verstanden?" „Natürlich", antworte ich sofort, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es eine rhetorische Frage war. Was hätte ich denn davon, wenn ich sofort Leute gegen mich aufhetze? „Du musst es mir auch versprechen, Phoebe." Phoebe nickt eifrig. Dann kramt sie in einer Tasche ihres Kleides und zückt einen Seidenschal. Abwartend beobachte ich, wie das Mädchen den Schal bis unter ihrer Nase drapiert. „Was machst du denn, Liebes?", fragt Salvia. Sie kann ihre Verwirrung nur schlecht verbergen. „Meine Zähne... Da sind so viele Fotografen." Zum ersten Mal während dieser Autofahrt empfinde ich Mitleid mit Phoebe. „Sieh es als dein Markenzeichen an. Es macht dich einzigartig", rede ich auf sie ein. Salvia schenkt mir ein strahlendes Lächeln, während sie behutsam Phoebe den Schal wegnimmt. Zuerst sieht Phoebe mich unsicher an, doch dann lächelt sie. „Du bist nett Georg."
Gemeinsam steigen wir aus dem Auto. Mein Blick richtet sich nicht auf die Reporter, sondern bleibt an Phoebe hängen. Sie findet mich nett. Aber ich darf sie nicht zu sehr in mein Herz schließen. Es kann nur einen Gewinner geben! Unsicher nage ich an meiner Unterlippe. Plötzlich begegne ich Salvias Blick. Unmerklich schüttelt sie den Kopf. Sofort lasse ich meine Unterlippe in Ruhe und sehe kurz zu den Kamerateams. Als seien sie Raubtiere, konzentrieren sie sich vollkommen auf ihre Beute, auf uns. Salvia ergreift meine Hand und zieht Phoebe und mich in den glänzenden Zug. „Auf ins Kapitol!", verkündet unsere Betreuerin. Die Zugtüren schließen sich hinter uns und trennen mich ein für alle Mal von meinem Distrikt, von meinem bisherigen Leben.
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Blut schmeckt salzig Rache ist süß
AcciónHaymitch Abernathy hat bei den 50. Hungerspielen das Kraftfeld genutzt, um seine letzte Gegnerin zu töten. Doch die Eltern des Mädchens sind von dieser unfairen Aktion gar nicht begeistert. Deshalb verspricht Präsident Snow dem Vater, der in diesem...