Bevor ich den Flachbildschirm anschalte, zupfe ich an meiner Perücke, die heute schon zum gefühlt tausendsten Mal verrutscht ist. Heute schimmern die künstlichen Haare in einem matten Grün. Grün, die Farbe der Hoffnung. Alle anderen Farben wären geschmacklos gewesen, da heute schließlich der Tag der Ernte ist. Ich streiche eine Falte aus meinem Kleid, das mit schwarzen Punkten übersät ist. Diese Punkte sollen auf dem roten Untergrund einen Marienkäfer symbolisieren, welcher Glück bringen soll. Da nun alles sitzt, kann ich meine Augen auf die Live-Übertragung der diesjährigen Ernte richten.
Gerade wird in Großbuchstaben „DISTRIKT 5" eingeblendet. Als Ashleen Ballyregan an das Mikrofon tritt, geht ein verwirrtes Murmeln durch die Massen. Ich verdrehe die Augen, als Ashleen eine Flasche an ihre Lippen ansetzt und trinkt. Ich will gar nicht wissen, was für ein Zeug diesmal in Bächen ihre Leber überanstrengt. Ich mustere Ashleens Outfit. Sie trägt einen feuerroten Jumpsuit, der überhaupt nicht mit ihren rötlichen Haaren harmoniert. Auch ihrer blassen Haut schmeichelt die kräftige Farbe nicht. „Hallo Distrikt 5! Jeder unter euch fragt sich wahrscheinlich, weshalb ich als Mentorin das Wort ergreife... Ich werde es euch nach einem kurzen Spot erzählen", verkündet Ashleen grinsend und wendet sich einer aufgestellten Leinwand zu, auf der nun ein Kurzfilm zur Entstehung der Hungerspiele läuft.
Früher hätte ich stolz zugesehen. Ich hätte ohne es zu hinterfragen unterschrieben, dass die Hungerspiele eine hervorragende Konsequenz des Fehlverhaltens der Menschen sind. Doch heute ist nicht früher. Heute bin ich um einige Erfahrungen reicher. Heute habe ich einen älteren Bruder, von dem ich nicht mit Sicherheit sagen kann, wo er steckt. Das einzige, was ich über ihn weiß, ist, dass er keine Zunge mehr hat und dass er vermutlich in irgendeiner Weise Kontakt zu den Rebellen hatte. Und allein aus diesem Grund, dass mein Bruder die Spiele hinterfragte, tue ich es genau in diesem Moment ebenfalls.
Der Kurzfilm ist vorbei und Ashleen tritt erneut an das Mikrofon. „Leider ist der Betreuer unseres Distrikts krank. Einige von euch werden jetzt empört rufen, dass die Tribute für Distrikt 5 ohne ihn geringere Chancen hätten. Diese klugen Menschen kann ich beruhigen. Die Tribute werden im Kapitol auf ihren Betreuer treffen. Man wollte ihm nur die Reiseanstrengung ersparen, damit er anschließend sein vollständiges Potenzial in eure Schützlinge, in unsere Tribute stecken kann." Ashleen trinkt einen Schluck und lacht.
Ashleens Lachen rührt nicht von dem Alkohol her. Dieser zeigt nur noch minimale Wirkung bei ihr. Ich vermute eher, dass sie wütend darüber ist, dass man Kinder um Leben und Tod kämpfen lässt, während man einen leicht kränklichen Betreuer, der im Leben kaum etwas zu befürchten hat, in seinem Zuhause gemütlich vor dem Fernseher das Leid seiner Schützlinge beobachten lässt. Obwohl ich gerade selbst vor dem Fernseher sitze und mich nicht ernsthaft über mein Leben beschweren und auch gewisse Reize der Hungerspiele nachvollziehen kann, verstehe ich Ashleens Empörung.
„Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die endlosen Reden desjenigen, der hier vorne steht, die eigene Angst nur noch ins Unerträgliche hinauszögern, weshalb ich vorschlagen würde, dass ich jetzt einfach schnell die Tribute auslose." Ashleens Lächeln lässt nach. Sie weiß, dass sie nun diejenige ist, in deren Händen das Schicksal zweier Jugendlicher liegt. Schnell geht Ashleen zu der Schale, in der die Mädchenlose bereitliegen. Ich richte mich noch ein Stück gerader auf und hänge an Ashleens Lippen, als sie den Namen vorliest, der auf dem Los steht.„Caroline Fernandez!"
Eine gewisse Unruhe geht durch die Reihen, als ein kleines Mädchen sich zur Bühne kämpft. Kurz bevor sie die Bühne erreicht, versucht sie sich Tränen von den Wangen zu wischen. Sofort habe ich Mitleid mit dem Mädchen, das ungewöhnlich mager ist. Ich beschließe, dass ich all mein künstlerisches Talent für dieses Mädchen einsetzen werde. Sofort schwirren Ideen für das Kostüm der Eröffnungsfeier des Mädchens in meinem Kopf. Es wird ein silbernes Kleid, das über ein tailliertes Drahtgestell fällt tragen. Ihren Körper könnte ich mit glitzerndem Puder bestreichen, so dass Caroline wie ein Stern aussieht. Aber was mache ich nur mit ihren blonden Haaren? Vielleicht sollte ich sie flechten...
„Wie alt bist du Caroline?", fragt Ashleen. Erneut lächelt sie, doch man kann ihr ansehen, dass es ihr momentan leicht schwerfällt. Sie wirkt, als gehe sie auf Distanz. „Ich bin 13 Jahre alt." „Möchtest du irgendwem noch etwas sagen, den du nicht bei deinem Abschiedsgespräch vermutest?" Caroline sieht Ashleen überrascht an. Normalerweise haben Tribute diese Gelegenheit nicht. Doch als Mentorin hat Ashleen ein anderes Verständnis für die Jugendlichen. „Ich weiß nicht, ob Liz McAllister gleich zu mir kommen wird. Sie ist die Freundin meines Bruders. Falls ich sterbe, musst du für meinen Bruder da sein, Liz. Das Schicksal muss etwas Positives dafür parat haben, dass ausgerechnet ich ausgelost wurde. Ich denke, dieses positive Etwas ist, dass du nicht in die Arena musst. Ich will, dass du mir einen Wunsch erfüllst: Heirate Tom und zieh' mit ihm zusammen, wie ihr es vorhattet!"
Ashleen wartet noch einen kurzen Moment, um sicher zu gehen, dass das Mädchen nicht noch mehr zu sagen hat, dann zieht sie den Namen des Jungen.„Ponto Clayhanger!"
Ein schmächtiger Junge tritt aus der Menge hervor. An seiner Kleidung erkenne ich sofort, dass die Familie des Jungen nicht allzu viel Geld hat. Das Hemd hat seine Leuchtkraft verloren, die Hose ist Ponto wohl schon seit etwas längerer Zeit zu kurz. Bei diesem Anblick bleibt mir gar keine Wahl, für Ponto werde ich ein teures Kostüm entwerfen. Für die Hungerspiele stellt die Regierung ein großzügiges Budget zur Verfügung. Während dieser kurzen Zeit seines Lebens soll Ponto einmal Reichtum genießen können!
„Wie alt bist du, Ponto?" „Ich bin 16 Jahre alt", verkündet Ponto und lässt seinen Blick über die Menschenmasse hinwegschweifen. „Möchtest du auch noch etwas loswerden?" Ponto schüttelt den Kopf. „Nun gut. Dann bitte ich um einen Applaus für die diesjährigen Tribute von Distrikt 5!" Ashleen hebt ihre Flasche und prostet den Menschen aus Distrikt 5 und anschließend allen, die vor einem Fernseher oder ähnlichem sitzen, zu.
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Blut schmeckt salzig Rache ist süß
AçãoHaymitch Abernathy hat bei den 50. Hungerspielen das Kraftfeld genutzt, um seine letzte Gegnerin zu töten. Doch die Eltern des Mädchens sind von dieser unfairen Aktion gar nicht begeistert. Deshalb verspricht Präsident Snow dem Vater, der in diesem...