Gemeinsam keit die verbindet

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Sophie Aaltje
Ich kann nicht anders, als Indigo anzustarren. Wahrscheinlich werde ich mich nie an den Anblick seines nichtvorhandenen Arms gewöhnen können. Doch er scheint den fehlenden Körperteil nicht zu vermissen. Irgendwie kann ich das nachvollziehen. Durch seine muskulöse Statur und diese rotbraunen Haare ist er bei den Frauen bestimmt auch ohne seinen Arm mehr als beliebt. „Wenn ihr über eure Lieben reden wollt, bin ich für euch da", bietet Indigo plötzlich an. „Ich habe Angst, dass ich Lena nie wieder sehen werde. Sie hat mir bei der Verabschiedung gestanden, dass sie meine Gefühle erwidert. Mein Leben wäre so sinnlos gewesen, wenn ich die Hungerspiele nicht überleben würde", jammere ich sofort. Es ist wie ein Reflex, den ich nicht unterdrücken kann. Aber die Angewohnheit, die Aufmerksamkeit der Leute zu erlangen, ist einfach zu lange eintrainiert. „Mach dir nicht zu viele Gedanken. Dein Leben war bis jetzt bestimmt auch sehr schön. Denk doch mal an alle Momente, die du mit Lena verbracht hast", beruhigt mich Indigo. Fürsorglich setzt er sich zu mir und legt seinen Arm um mich.

„Und was ist mit dir, Francis?", fragt Indigo, nachdem er mich beruhigt hat. Es gefällt mir nicht, dass Francis nun die Aufmerksamkeit erhält, die mir eigentlich zusteht. Doch ich setze nicht zu einer erneuten „Dramaszene" an, als ich Francis Blick bemerke. Seine himmelblauen Augen glänzen, weil sie von Tränen verschleiert werden. Egal, was der Grund dafür ist, Francis tut mir leid. „Er hat sich nicht von mir verabschiedet", murmelt mein Mittribut leise und starrt dabei abwesend auf einen mir verborgenen Punkt im Zugabteil. „Das ist ja schrecklich!", bricht es aus mir heraus. Indigo sieht mich kurz an, während er sich aus der Umarmung löst und auf Francis zugeht. Zögernd kniet er sich vor den Jungen, wobei er sich an dem Sitzpolster festhalten muss, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. „Er ist nicht zu mir gekommen", flüstert Francis mit heiserer Stimme. Plötzlich beginnen die Tränen über seine Wangen zu laufen. Indigo sieht ihn an und wartet ruhig ab, wobei ich deutlich erkennen kann, dass auch er Mitleid mit Francis hat. „Wir sind verlobt. Ich habe ihm vor drei Monaten einen Antrag gemacht und er hat sofort „Ja" gesagt. Wir leben in einem Haus und sind glücklich miteinander. Er wollte nicht, dass ich mich für ihn freiwillig melde, auch wenn die Hungerspiele zu seinen größten Ängsten gehören. Er ist so unglaublich wütend auf mich..." Francis entfährt ein leises Schluchzen. „Die Hungerspiele stellen schreckliche Dinge mit unserer Psyche an. Sie sorgen dafür, dass wir egoistischer werden, dass wir zurückgezogener leben. Oder sie sorgen dafür, dass Familien, Beziehungen und Freundschaften scheitern. Aber ich bin mir sicher, dass dein Freund gerade ebenfalls zu Hause sitzt und weint. Er bereut es bestimmt sehr, dich nicht verabschiedet zu haben. Denn er liebt dich!" Jetzt erst sieht Francis auf und schaut unseren Mentor dankbar an. „Hätte ich nicht einen Verlobten, würde ich Sie auf einen Drink bei mir zu Hause einladen", meint er grinsend. Indigo lacht leise. „Zu schade, dass es nie zu dieser Einladung kommen wird."

„Du könntest deinem Verlobten einen Brief schreiben", mische ich mich nun wieder ein. Francis hat lange genug die volle Aufmerksamkeit erhalten! „Das ist eine gute Idee", meint Francis und empört muss ich auch etwas Verblüffung heraushören. „Darf ich mitkommen?", frage ich vorsichtig, als Francis aufsteht, um in sein Zimmer zu gehen und meinen Vorschlag in die Tat umzusetzen. Mein Mittribut zögert kurz, doch dann nickt er.

Während Francis mit krakliger Schrift einen Brief an seinen Freund verfasst, muss ich an Lena denken. „Seit wann wusstest du, dass du auf Jungen stehst?", frage ich und spüre, dass sich meine Wangen röten. „Ich habe mich das erste Mal in einen Jungen verliebt, als ich dreizehn war." „Und... Wie bist du damit umgegangen? Ich meine, hast du es sofort akzeptiert?" „Ich habe es zuerst nicht verstanden. An diese neuen Gefühle musste ich mich erst gewöhnen. Nach einem Monat konnte ich es aber nicht mehr abstreiten. Zuerst habe ich mich meiner großen Schwester Léa anvertraut. Sie war zuerst wenig begeistert, das habe ich gespürt, aber sie akzeptierte es, genau wie meine Eltern, denen ich es kurz danach erzählt habe. Meinem Schwarm habe ich es ungünstiger Weise in der Schule erklärt. Er hat sich vor mir geekelt und mich angeschrien, ich solle weggehen." Gequält verzieht Francis seine Lippen zu einem schiefen Lächeln. Meine Mitschüler haben lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass ich homosexuell bin. Doch als ich endlich mit Arthur zusammenkam, gewöhnten sie sich an den Anblick, dass wir uns küssten oder flirteten." Francis mustert mich kurz. „Warum fragst du?", stellt er die Frage vorsichtig.

„Ich war schon länger in Lena verliebt, aber ich habe mich erst heute getraut, es ihr zu sagen. Weißt du, manchmal sagt mir mein Gehirn, dass ich dringend mehr Aufmerksamkeit benötige. Die Ernte erwies sich dafür als sehr hilfreich. Durch das viele Adrenalin konnte ich nicht anders, als Lena endlich meine Liebe zu gestehen. Die Worte waren ausgesprochen, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen hätte können." „Immerhin hast du es ihr gesagt. Stell dir doch mal vor, du wärst gestorben, ohne dass Lena gewusst hätte, was du für sie empfindest." Entsetzt ziehe ich scharf die Luft ein. „Das wäre grauenvoll." Francis nickt wissend. „Aber ich würde so gerne sicher gehen können, dass meine Eltern nichts dagegen haben. Meine Mutter sah mich so mitleidig an. Ich glaube, sie dachte, dass es wieder so eine halbherzige Aktion von mir war, die ich nicht wirklich ernst gemeint habe." „Wenn sie dich wirklich kennt und liebt, wird sie bei der Ernte verstanden haben, dass du Lena liebst." „Francis?" „Ja?" Francis muss lächeln. „Würdest du in der Arena mein Verbündeter sein wollen?" „Ich..." Francis bricht ab und scheint über meine Frage nachzudenken. „Es wäre wirklich schön, jemanden an der Seite zu haben, der dich versteht und für dich da ist. Ich werde dir immer helfen. Vielleicht wirke ich nicht so begabt, aber ich kann mit dem Schwert umgehen; Lena hat es mir beigebracht."

„So kannst du noch nicht einmal den Wind erstechen", kritisiert mich Lena lachend, während ich wild mit dem Schwert umherfuchtle. Kleine Staubwolken wirbeln unter meinen Schuhen auf. Der Staub mischt sich mit dem Industriequalm, der die Luft innerhalb unseres Distrikts verpestet, so dass ich husten muss. „Geht es?", fragt Lena besorgt. Ich wische mir kleine Tränen aus den Augenwinkeln und nicke. „Du musst das Schwert so führen." Lena stellt sich hinter mich und umschließt meine Hände. Dann bewegt sie die Waffe langsam, aber zielstrebig. Mir läuft ein Schauder über den Rücken, als Lenas Finger mich berühren. Was soll das? Mir ist doch gar nicht kalt! Plötzlich ertönen laute Schritte, die sich im Gleichschritt nähern. „Waffe fallen lassen!", ertönt eine grimmige Frauenstimme. Blitzschnell lasse ich das Schwert fallen, als hätte ich mich an dem glänzenden Metall verbrannt. Eine Friedenswächterin stellt sich entschlossen vor uns. Meine Knie zittern und ich überlege bereits, ob ich einen Ohnmachtsanfall vortäuschen soll. Dann könnte Lena mich auffangen und ... „Du bist es, Stella!", seufzt Lena erleichtert, als die Friedenswächterin ihren Helm absetzt. „Sophie, das ist Stella. Sie..." Doch ich höre nicht weiter zu. Die Vertrautheit und Sympathie, mit der Lena von dieser Frau spricht, gefällt mir ganz und gar nicht!

„Ich denke, wir würden wirklich ein gutes Team abgeben", holt mich Francis wieder zurück in die Gegenwart. „Wirklich?" Hocherfreut springe ich auf und umarme meinen soeben gewonnenen Verbündeten. Francis lacht und meint grinsend: „Ich werde aber kein Freundschaftsarmband oder so etwas tragen!"
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Blut schmeckt salzig Rache ist süß Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt