Schwester Hertz

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„Au, das ziept!", beschwert sich Phe. „Halt still, dann tut es nicht so weh", weise ich meine kleine Schwester an, doch Ophelia kann einfach nicht ruhig sitzen bleiben. „Ich will nicht, dass du gezogen wirst." Mit einer Hand halte ich das Ende des geflochtenen Zopfs fest, mit der anderen Hand fasse ich Phe unter ihr kleines, blasses Kinn und sorge dafür, dass sie mich ansieht. „Ich habe es letztes Jahr doch auch geschafft. Man wird mich nicht ziehen", versuche ich sie zu beruhigen. Von den Träumen, in denen ich die verschiedensten Wege erkunde, wie ich sterben könnte, erzähle ich ihr nicht.  „Und wenn ich gezogen werden würde, könnte ich endlich mal das Kapitol sehen." Wütend funkelt Phe mich an. Ihre Augen glänzen. Gerührt umarme ich sie. „Keine Sorge, das war ein Scherz. Ich würde niemals das Risiko eingehen in der Arena zu kämpfen, nur damit ich diese schrägen, buntverkleideten Leute kennenlernen kann." Während ich so über die Kapitolbewohner spreche, lächelt Ophelia wieder. Schnell flechte ich ihren Zopf zu Ende und binde ihn mit einer roten Schleife zusammen. „Fertig." Ophelia strahlt ihr Spiegelbild an. Sie liebt es, wenn ich ihr die Haare flechte, weil wir dann immer richtige „Mädchengespräche" führen können. Da ich meine Haare lieber offen trage, befestigt Phe nur eine blaue Schleife in meinem Haar. Es ist ein kleines Detail, das aber an diesen Abenden, wie heute nicht fehlen darf.

Gemeinsam gehen wir in das Wohnzimmer, das gleichzeitig auch unsere Küche und das Schlafzimmer unserer Eltern ist. Voller Vorfreude gehe ich zu dem dunklen Wandschrank, der mich jedes Mal, wenn ich das Wohnzimmer betrete, in seinen Bann ziehe. Denn schließlich weiß ich, was sich für ein Schatz hinter seinen Türen verbirgt. Die Schranktüren quietschen mein Lieblingsquietschen, während ich sie öffne. Vorsichtig hole ich meine Flöte aus der Schachtel, in der ich sie aufbewahre. „Das ist nur eine Flöte, Ira", zieht mich meine Schwester auf. Empört drehe ich mich zu ihr um. „Nur eine Flöte? Mit diesem Instrument mache ich Mum, Dad, dich und mich glücklich. Dadurch verbessere ich unser Leben und somit auch einen Teil von Panem. Außerdem weißt du, dass das ein Erbstück ist. Dann kann ich doch nicht mit ihr umgehen, als wäre sie..." „Iridia, willst du nicht lieber auf deiner Flöte spielen, als deiner Schwester Vorträge über sie zu halten?", fragt mich Mum und legt mir beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. Eigentlich gibt es noch so viel, was ich Phe zu sagen hätte, aber heute sollte ich die Zeit anders verbringen. Dieser Abend ist kostbar. Ich beginne meine Lieblingsmelodie zu spielen. Es ist ein schnelles Lied. Irgendwie erinnert es mich an die stürmische See. Es klingt befreiend, wild. Wenn ich morgen wirklich gezogen werden würde, wünsche ich mir eine Arena mit einem See oder einem kleinen Fluss. Auch wenn ich nicht schwimmen kann, würde ich so gerne mal ans Meer. All das schießt mir durch den Kopf, während ich spiele. Mum und Dad beginnen ausgelassen zu tanzen. Ich liebe es, wenn sie das tun. Dann sehen sie einfach nur glücklich aus. Ophelia grinst mich an. Ich spiele eine andere Melodie und Phe beginnt mit ihrer klaren Stimme zu singen. Dieser Gesang ist... unbeschreiblich. Die Töne, die aus meiner Flöte kommen, klingen plötzlich schief und Phe muss lachen. „Das klingt so, als würde man einer Katze auf den Schwanz treten." „Erstens bist du an den schiefen Tönen schuld, weil ich wegen dir lachen musste. Und zweitens ist es nicht witzig Katzen zu treten. Gewalt gegen Tiere..." „Ira!" Phe verdreht die Augen. „Für dein Alter bist du viel zu frech." „Du bist nur drei Jahre älter, Ira." Wir müssen lachen. „Wollt ihr weiter musizieren?", schlägt Mum vor. Natürlich wollen wir. Erst, als Phe heiser wird, meine Töne unsauber werden und meinen Eltern die Puste ausgeht, hören wir auf. Das Abendessen nimmt wie immer viel Zeit in Anspruch. Zugegeben liegt das an mir. Aber wann soll ich denn sonst über alles reden, was in meinem Leben so passiert?

„Gute Nacht, Phe." Ich knipse die kleine Lampe neben meinem Bett aus. „Ira?" Ich spüre, wie meine Bettdecke zurückgeworfen wird. „Darf ich bei dir schlafen? Wer weiß, ob das die letzte Nacht ist, in der ich die Gelegenheit dazu habe." „Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich nicht gezogen werde, Phe." Ich nehme meine kleine Schwester in den Arm. Etwas Kaltes, Nasses an meinem Hals verrät mir, dass meine kleine Schwester meinetwegen weint. Innerlich verkrampfe ich. Phes Angst verstärkt meine Angst nur noch mehr. Ich habe nur zwei Tesserasteine. Eigentlich bräuchten wir keine. Mum hält nicht viel davon, weil sie denkt, dass sie in ihrem Leben versagt hat, wenn wir zu diesen Mitteln greifen müssen. Aber ich finde, dass es das wert ist, wenn es Phe dadurch noch besser geht. Und ich werde bestimmt nicht gezogen... „Schlaf gut, Phe. Ich hab' dich lieb." Ophelia schnieft leise, dann murmelt sie: „Ich dich auch." Sie schlingt einen Arm um mich und umklammert meinen schmalen Körper. Ich öffne vorsichtig Phes Zopf und streiche ihr durch ihr Haar. Wenn ich sterben sollte, bleibt immer noch Ophelia. Mein Aussehen wird niemand vergessen, denn ihre Haare sind auch meine Haare. Schon bald werden Phes Atemzüge tiefer. Ihre klammernde Hand an meiner Taille entspannt sich. Ich drehe meinen Kopf leicht und küsse meine kleine Schwester auf die Stirn. Dann drehe ich mich vorsichtig auf die Seite und schließe meine Augen.

„Nur noch wir beide! Sag deiner Schwester auf nimmer Weidersehen." Das dunkelhaarige Mädchen beugt sich über mich. Meine Hände sind schweißnass. „Tu das nicht! Das kannst du ihr nicht antun." Das Grinsen des Mädchens wird breiter. „Warum denn nicht?" „Phe ist ein Schatz. Jeder liebt sie und deshalb darfst du mich ihr nicht wegnehmen. Das würde sie zerstören. Bitte", flehe ich meine letzte Gegnerin an. Vielleicht erhören mich ja Sponsoren? Oder sogar die Spielmacher? Dann könnten sie Mutationen auf dieses Mädchen hetzen, das selbst eine Mutation sein muss, so herzlos, wie es ist. „Ich kenne keine Gnade. Auf mich warten Reichtum, Macht, Ansehen und Jungen. Was interessiert mich dann deine ach so süße kleine Schwester?!" Mit diesen Worten richtet sich das Mädchen auf und tritt mit voller Kraft auf meine Finger. Ich schreie auf, halte mich krampfhaft an der Klippe fest. Doch es reicht nicht. Diesmal hilft es mir nicht, dass ich allen Menschen eine Chance gebe, dass ich an das Gute in ihnen glaube. Stattdessen falle ich. Das Meer verschlingt mich und nimmt danach seinen üblichen Wellengang auf. Leb wohl, Phe.

Blut schmeckt salzig Rache ist süß Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt