„Hier bin ich wieder! Hast du mich vermisst?", begrüße ich den Raum des Justizgebäudes sarkastisch. Prüfend lasse ich meinen Blick umherschweifen. Tatsächlich, es hat sich nichts verändert. Der weiße Teppichboden ist immer noch weiß, auf dem Mahagonitisch stehen die gleichen grünen Rosen, wie beim letzten Mal. Auch die purpurnen Vorhänge wurden nicht ausgetauscht.
„Es tut mir so leid, Ralph. Eben... Ich war so schockiert. Irgendwie hat mir meine Stimme nicht gehorcht. Ich konnte mich nicht freiwillig melden!" Ralph lässt den Blick von den hässlichen Rosen ab und sieht mich direkt an. „Ich weiß."
Im Prinzip hatte es nichts gebracht, dass ich mich damals nicht für meinen Zwillingsbruder gemeldet habe. Denn jetzt muss ich genauso um mein Leben bangen. Man hat einfach noch mehr Sand in die Sanduhr gefüllt, die anzeigt, wie viel Lebenszeit mir noch bleibt. Aber letztendlich wird irgendwann kein Sand mehr in der oberen Hälfte sein, der abfließen kann.
„Ich weiß nicht, ob ich gewinne. Aber du musst dich um Mum kümmern." „In Ordnung." „Versprichst du es mir?" „Nur, wenn du heil aus der Arena zurückkehrst."
Ein Lächeln umspielt meine Mundwinkel. Auch meine kleine Erpressung bringt mir nichts. Ralph hat nicht überlebt und nun werde ich mich auch nicht weiter um unsere Mutter kümmern können. Wut wallt in mir auf. Zornig balle ich meine Hände zu Fäusten. Mein Atem geht flacher. Am liebsten würde ich die Vase mit diesen grässlichen Blumen zertrümmern. Denn es ist einfach nur unfair! Meine Mutter hat immer gekämpft. Dann muss meine Schwester sie im Stich und sich als Model feiern lassen. Einige Jahre später wird ihr Sohn in den Hungerspielen ermordet. Kurz darauf setzt die Demenz ein und jetzt wurde ich zu den Hungerspielen ausgelost. Wenn Mum Glück hat, stirbt sie, noch bevor ich in der Arena bin. Sie würde endlich von all dem Leid befreit werden. Ich bekomme Kopfschmerzen, da ich krampfhaft versuche, die Tränen zurückzuhalten.
„John! Ich liebe dich." Rayna stürzt auf mich zu und presst ihre Lippen auf meine. Ich beuge mich zu ihr herab und erwidere ihren Kuss. Stürmisch verkrallt Rayna sich in meinem Haar. Ihr Atem geht keuchend. Fordernd drängt sie sich an meinen Körper. Ich gebe mich meiner Freundin hin. Wer weiß? Vielleicht ist es das letzte Mal, dass wir uns so küssen können? „Versprich mir, dass du im Kapitol keine Andere so küsst", fordert Rayna, nachdem sich unser Atem wieder beruhigt hat. „Ich werde es nur tun, wenn es zu meiner Strategie beiträgt." Rayna überlegt kurz, ob sie damit klarkommt, doch dann nickt sie. Behutsam streiche ich eine dunkle Locke aus ihrem Gesicht. „Hier." Überrascht sehe ich auf die Kette, die mir Rayna hinhält. Ein Ring baumelt an dem Silberkettchen. „Ich will, dass du die in der Arena trägst, damit du mich nicht vergisst." „Danke." Ich nehme das Geschenk entgegen und lasse es in meine Hosentasche gleiten. „Ich gehe dann mal..."
„Hallo, Versager." Ich wende mich vom Fenster ab und erblicke Violet. Herausfordernd funkeln mich ihre blauen Augen an. „Kannst du kleines Miststück mich nicht wenigstens am Tag meiner Ernte in Ruhe lassen?", entgegne ich und wuschle durch ihre kurzen, weißblonden Haare. Protestierend greift sie nach meinem Handgelenk und dreht es auf meinen Rücken. „Wenn du die diesjährigen Hungerspiele gewinnen willst, musst du aber noch einen Zahn zulegen, Knallkopf." Ich muss grinsen. An Violets Beleidigungen habe ich mich schon längst gewöhnt. „Du kannst mich jetzt gerne loslassen", fordere ich mit zusammengepressten Zähnen, da mir der Scherz so langsam zu stark wird. „Na, na. Du denkst doch nicht etwa, dass ich mir diesen Spaß entgehen lasse?" „Oh bitte, kleine Ratte." Violet stößt mich von sich, so dass ich den Halt verliere und auf dem Teppichboden lande. Grinsend reicht mir Violet ihre Hand. Ich ergreife sie und ziehe das kleine Biest zu mir auf den Boden.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst", breche ich die Stille und sehe Violet von der Seite an. „Ich auch nicht. Oder vielleicht doch. Ich wollte wohl persönlich sichergehen, dass ich dich Mistkerl endlich los bin." Spontan lege ich einen Arm um ihre dünnen Schultern. „Ich werde dich vermissen." „Nicht weinen, Kleiner." Ich muss lachen, da ich mindestens zwei Köpfe größer bin. „Ich denke, du wirst mir auch fehlen. Irgendwie jedenfalls..." Verträumt sieht Violet zu den Rosen.
„Das hier musst du mitnehmen." Auffordernd hält mir Violet etwas hin. „Das ist doch nicht...?" „Doch!" Nun muss ich ebenfalls grinsen und nehme den Zahn entgegen, den Violet mir unbedingt mitgeben möchte. „Du hast ihn wirklich aufgehoben?" „Na klar. Jedes Mal, wenn ich mich nach dem Training über dich aufgeregt habe, bin ich nach Hause gegangen und habe mir deinen Zahn angeguckt. Danach ging es mir immer sofort besser." Gedankenverloren taste ich an meine Wange. Die Zahnlücke ist deutlich zu fühlen. „Es hat so Spaß gemacht, dir endlich mal eine rein zu hauen", verkündet Violet begeistert. An dem Leuchten in ihren Augen erkenne ich, dass sie es genau so meint, wie sie es sagt. Alles andere hätte mich auch überrascht. „Bist du dir sicher, dass du mir meinen Zahn zurückgeben willst? Dein Ego könnte leiden, wenn du keine Siegestrophäe mehr in den Händen halten kannst..." „Da mach dir mal keine Sorgen! Du sollst ihn mitnehmen, damit du nicht vergisst, dass es immer einen stärkeren Gegner in einem Kampf gibt." „Danke." Als ich es ausspreche, wird mir bewusst, dass ich es auch wirklich so meine. Ich bin Violet für alles dankbar, was wir erlebt haben. Auch wenn ich in ihrer Gegenwart nicht gerade wenig einstecken musste...
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Blut schmeckt salzig Rache ist süß
ActionHaymitch Abernathy hat bei den 50. Hungerspielen das Kraftfeld genutzt, um seine letzte Gegnerin zu töten. Doch die Eltern des Mädchens sind von dieser unfairen Aktion gar nicht begeistert. Deshalb verspricht Präsident Snow dem Vater, der in diesem...