Zwei Rätsel für sie

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„Wie schaffst du es eigentlich immer wieder so einen perfekten Lidstrich zu ziehen, obwohl du so zitterst?", frage ich an Cecil gewandt. Ich würde es verstehen, wenn sie wütend oder gereizt reagieren würde, doch Cecil lächelt nur schief und meint: „Als Stylistin musst du so etwas beherrschen. Es ist wohl jahrelange Übung." „Lass meinen Pony bloß da, wo er ist!", faucht Amelia, als Cecil sich an ihren Haaren zu schaffen machen will. Cecil seufzt demonstrativ. „Du könntest noch so viel hübscher aussehen, wenn du deine Wolle aus dem Gesicht nehmen würdest." „Es gibt niemanden da draußen, für den ich noch schöner sein muss. Und du weißt, dass ich meinen Pony immer über das eine Auge tragen will!" „Beruhige dich. Cecil hat es nur gut gemeint", mische ich mich in die Diskussion ein, bevor sie ausartet. Wir wissen nicht, warum Amelia ihr Auge verbirgt. Es würde nahe liegen, dass sie es während ihrer Zeit in der Arena verloren hat, doch das müssten wir doch eigentlich durch die Kameraübertragungen wissen... Gerade will Amelia etwas erwidern, weshalb ich schnell das Thema wechsle. „Ich hoffe, die diesjährigen Tribute wissen, wie man sich zu benehmen hat." „Das schlimmste, was uns passieren kann, sind arrogante Alleskönner", meint Cecil, während sie mein blaues Kleid zumacht. Es harmoniert perfekt mit meinen dunkelblauen Haaren. Das Gleiche gilt für den silbernen Lidstrich. „Da hast du Recht. Ich kann arrogante Tribute nicht ausstehen. Karrieros sind die Schlimmsten." Amelia hat damals nur im Notfall getötet. Ich kann mich noch gut an die Situationen am Esstisch erinnern, in denen sie dem Karriero aus Distrikt 4 ordentlich ihre Meinung gesagt hat. Es klopft an der Tür. „Ja?"

„In fünf Minuten geht es los", teilt uns ein Friedenswächter mit. „Setzen Sie doch bitte diesen albernen Helm ab, wenn Sie mit uns reden", fordert Amelia grinsend. Der Friedenswächter räuspert sich und verlässt den Raum. „Amelia, du weißt, was ich von solchen Manieren halte!" „Diese Helme erinnern mich zu sehr an meine eigene Zeit in der Arena. Außerdem habe ich das Gefühl, dass die Friedenswächter nur durch ihre Helme in der Lage sind, schreckliche Dinge durchzuführen, weil sie dadurch nicht erkannt werden und leichter in eine Rolle schlüpfen können." „Das macht deine Aufforderung auch nicht höflicher", murmle ich leise. „Los Mädels, raus mit euch!", versucht Cecil die Stimmung etwas aufzulockern. Ich klopfe gegen meine Wangen, dann setze ich ein strahlendes Lächeln auf.

Nachdem Amelia, der Bürgermeister von Distrikt 4 und einige andere wichtige Personen die Bühne betreten und Platz genommen haben, trete ich hinaus vor Distrikt 4. Die Leute applaudieren vereinzelt. „Guten Tag, meine lieben Bewohner aus Distrikt 4", begrüße ich sie, wie es meine Mutter schon einige Jahre vor mir tat. „Frisch aus dem Kapitol habe ich einen Film mitgebracht, den wir uns jetzt gemeinsam ansehen." Ich drehe mich in Richtung der Leinwand. Natürlich sehe ich mir den Film nicht zum gefühlt hundertsten Mal an, sondern begutachte Amelia. Ich schenke ihr ein Lächeln, als ich feststelle, dass sie kerzengerade sitzt. So gehört sich das!

„So, das war informativ und unterhaltsam zugleich", fasse ich den Film zusammen, um die Leute vergessen zu lassen, dass sie Angst haben. „Ich beginne wie immer mit dem Mädchenlos", verkünde ich und gehe zu der Schale mit den Mädchenlosen. Bevor ich den darauf stehenden Namen verlese, werfe ich meine Haare zurück. Etwas Spannung macht sich im Fernsehen immer gut. Vielleicht werden die Spielmacher dadurch schneller auf unsere Tribute aufmerksam.

„Das Mädchen, das in diesem Jahr Distrikt 4 vertreten darf, ist ... Louisa Nott!"

Ich beobachte das Mädchen. Ihre langen, leicht gewellten Haare werden nicht wenigen Kapitolern gefallen. Als das Mädchen fast die Bühne erreicht hat, bemerke ich die Narbe, die sich quer über seine Wange erstreckt. Spätestens jetzt beginnen die Wetteinsätze für Louisa zu steigen. Man wird eine Kämpfernatur in ihr vermuten. Ihr athletischer Körperbau kann das nur bestätigen. „Hallo Louisa. Verrätst du uns dein Alter?", frage ich sie, als Louisa die Bühne erklommen hat. „Ich bin 17 Jahre alt", erklärt Louisa mit ruhiger Stimme. Ist sie ein Karriero? Ihre ruhige Stimme und die nichtvorhandenen Tränen deuten ganz darauf hin. Ich muss ein Seufzen unterdrücken. „Sehr schön, Louisa. Dann werde ich nun deinen Mittribut auswählen."

Gespannt greife ich in die Schale der Jungen und ziehe einen Zettel heraus.

„Der männliche Vertreter für unseren Distrikt ist ... Jordan Grandt!" Abwartend sehe ich in die Menge.

Ein schlaksiger Junge mit Problemhaut kämpft sich zu mir nach vorne. Ich halte mein Lächeln aufrecht. „So Jordan, dann sag uns doch mal, wie alt du bist!?" „Ich bin..." Die Stimme des Jungen wandelt sich zu einem hohen Krächzten. Er scheint mitten im Stimmbruch zu sein. Jordan läuft dunkelrosa an. „15", murmelt er leise. Ich lege meine Hand auf seinen Rücken und ziehe sie auch nicht weg, als mir bewusst wird, dass das Hemd des Jungen schweißgetränkt ist. Ich will ihm Kraft spenden.

„Gibt es Freiwillige für Louisa Nott?", frage ich nun. Die Menge schweigt. In Gedanken zähle ich bis zehn, dann frage ich in die Runde: „Schön. Möchte jemand anstelle von Jordan Grandt antreten?" „Ich! Ich melde mich freiwillig!", ruft jemand. Ich spüre, wie sich die Anspannung von Jordan löst. Ich lächle ihm zu und entlasse ihn von der Bühne, als im Gegenzug ein wahrer Traumtribut heraufsteigt. Er hat markante Wangenknochen, ist leicht gebräunt und hat eine hübsch anzusehende Muskelmasse vorzuweisen. Ich strecke meine Hand nach dem Jungen aus. Er ergreift sie. „Wie heißt du, mein Lieber?" „Mein Name ist Nathanael Mare, aber mir genügt es, wenn man mich Nate nennt." Mit seiner freien Hand wuschelt sich Nate durch seine dunklen Haare. „Nate, also. Wie alt bist du denn?" „Ich bin 18 Jahre alt." „Also ist das deine letzte Ernte, an der du als potenzieller Kandidat der Hungerspiele teilgenommen hast. Ist das deine Motivation gewesen, dich zu melden, oder bist du irgendwie mit Jordan verwandt?" Nate muss lächeln. „Nein, ich bin nicht mit Jordan verwandt und auch nicht befreundet." „Ich bitte um einen tosenden Applaus für unsere diesjährigen Tribute, Louisa und Nate!" Die Menge tut mir den Gefallen und verabschiedet uns unter Applaus von der Bühne.
Friedenswächter treten auf uns zu und wollen Louisa und Nate den Weg weisen. Die beiden Tribute sehen sich nach. Es scheint mir fast, als würden sich die Beiden kennen...

„Die Tribute sehen toll aus!", begrüßt mich Cecil. Ich muss lachen. „Wir können froh sein, dass Nate und nicht Jordan für Distrikt 4 antritt." „Ich dachte schon, du fängst gleich an zu sabbern", mischt sich Amelia ein. „Aber du musst zugeben, dass er verdammt gut aussieht", verlangt Cecil. „Das mag ja sein, aber wenn er dafür total arrogant ist, hilft uns das auch nicht." „Das ist er nicht." Irgendetwas sagt mir, dass Nate nicht der typische Karriero ist... „Aber ob Louisa sympathisch ist, weiß ich noch nicht..." „In welches Kleid soll ich sie nur stecken? Das Algenoutfit scheidet aus. Entweder ich wähle das sexy und glamouröse Kleid für sie, oder das mysteriöse und verführerische Kleid..." „Nimm das Zweite", fordert Amelia ohne zu zögern. „Sexy wird sie mit dieser Narbe sowieso nicht mehr. Aber durch ihr Auftreten kann man sie sehr schön zu einem Rätsel formen." „Ich glaube, du hast Recht... Ich fahre sofort los. Dann kann ich zur Not doch noch beide Kleider schneidern." Amelia und ich verabschieden uns von Cecil und beraten uns anschließend, wie wir im Zug verfahren wollen.

Blut schmeckt salzig Rache ist süß Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt