Ein Friedenswächter führt mich zu einem kleinen, schlichten Raum. Er ist so hässlich und kalt, wie das gesamte Justizgebäude. Die Hand des Friedenswächters ruht auf meiner Schulter. Ob dieser Mann in früheren Jahren die Dienste meiner Mutter in Anspruch genommen hat? Ist er vielleicht mein Vater? Eine Gänsehaut überfällt mich. Der Friedenswächter scheint zu bemerken, dass ich ihn aus großen Augen mustere. „Beeil dich. Dir bleibt nicht viel Zeit, dich von deiner Familie und wem auch immer zu verabschieden." Bei dem rauen Klang seiner Stimme wird mir klar, dass das nicht mein Vater sein kann. Zwar habe ich dafür keine Beweise, aber mein Instinkt sagt es mir einfach.
„Penny!" Thomas stürzt herein und nimmt mich in seinen Arm. „April." Hinter ihm steht meine Mutter abwartend. „Mutter", begrüße ich sie, mache aber keine Anstalten, zu ihr zu gehen. „Hör zu, Penny." „Musst du mich immer mit meinem Zweitnamen ansprechen?", nörgle ich ein bisschen. Es tut gut, sich über irgendetwas aufzuregen. So vergesse ich in einem gewissen Maß, dass ich mich gleich von meinem Bruder trennen muss. „Du wirst gewinnen!" „Es ist so ungerecht! Reicht es ihnen nicht, dass sie schon Libby und Neo auf ihrem Gewissen haben? Was hat unsere Familie denen eigentlich getan? Das war doch kein Zufall, dass ausgerechnet ich gezogen wurde!" „Nein, aber wir können froh sein, dass ich nicht gezogen wurde", entgegnet mein Bruder trocken. Als er meinem Blick begegnet, fügt er hastig hinzu: „Ich meine damit, dass wir so vielleicht beide überleben können. Wären wir zu zweit in der Arena gewesen, hätte mindestens einer von uns sterben müssen." „Du hast Recht. Wahrscheinlich muss ich diesen Schweinen auch noch dankbar dafür sein, dass sie nur mich gewählt haben. Dabei wäre es doch so eine schöne Show geworden, wenn man uns beide zufällig gezogen hätte. Ein kleines Familiendrama. Eine Tragödie." Ich seufze auf. „Jetzt hör auf dich da rein zu steigern. Du weißt, dass du das schaffen kannst." „Niemand aus unserer Familie hat es geschafft, die Spiele zu überleben." Ich höre selbst, dass ich irgendwie resigniert klinge, dabei will ich das gar nicht sein. Es sollte mich nicht beeindrucken, dass ich ausgewählt wurde. Es war so eindeutig und vorhersehbar. „Das ist doch ein Grund mehr für dich, zu gewinnen. Pass auf, du hast trainiert, also kannst du dich verteidigen und angreifen. Außerdem unterschätzt man dich bei deinem Anblick." Das stimmt. Da wir nie viel Essen zur Verfügung haben, bin ich abgemagert. Man sieht mir das tägliche Training mit Thomas nicht an. Stattdessen erkennt man die Umrisse meiner Knochen. Das Einzige, was mich irgendwie verdächtig machen könnte, ist die Narbe auf meinem Unterarm. Aber damit werde ich schon klarkommen. „Okay." „Du musst mir versprechen, dass du dein Temperament ein bisschen im Schach hälst. Wenn sie dich unterschätzen, steigen deine Überlebenschancen." „Willst du mir nicht noch sagen, dass du mich liebhast?", frage ich leise. Thomas Blick funkelt leicht. An seinen zusammengepressten Lippen kann ich erkennen, dass er seine Tränen zurückhalten muss. Er will mir den Abschied erleichtern. Als ob das irgendwie möglich ist. „Natürlich habe ich dich lieb, Schwesterchen. Und genau deshalb musst du gewinnen. Was soll ich denn ohne dich Dickschädel nur machen?" Ich muss lächeln. „Verdammt!", schniefe ich, da mir nun auch die Tränen kommen. Thomas presst mich noch enger an seine Brust, als würde er nicht zulassen wollen, dass ich ihm weggenommen werde. „Aber wenn ich ... es nicht schaffe, musst du weitermachen." Thomas schüttelt unmerklich den Kopf. Es ist nur eine kleine Geste, die mir das Herz zuschnürt.
„Mutter?" Ich löse mich aus Thomas Umarmung und gehe nun auf meine Mutter zu. „Mutter, ich will, dass du dir eine vernünftige Arbeit besorgst. Ich bin es leid, dass die Leute dich hinter hervorgehaltener Hand als Nutte beschimpfen." Eine Träne rollt über die Wange meiner Mutter. Sie hasst es ebenso wie ich. Damals hatte sie allerdings nicht die Möglichkeit, sich gegen diesen Beruf zu stellen. Entweder, sie arbeitete als Prostituierte, oder sie starb. „Es könnte dir vielleicht helfen, wenn du endlich einen Mann finden würdest, den du liebst. Liebe hat so viel Macht. Dieser Mann könnte dich glücklich machen..." Ich weiß, dass Mutter keinen ihrer Liebhaber -oder wie man sie nennen soll- wirklich geliebt hat. Denn ansonsten hätte sie versucht, herauszufinden, wer unsere Väter sind. Doch ich glaube an die Liebe! „Außerdem solltest du dich etwas mehr um Thomas sorgen. Es ist schlimm genug, dass wir nicht wissen, wer unsere Väter sind. Aber dass wir unsere Mutter fast genauso wenig kennen, obwohl sie mit uns unter einem Dach wohnt, ist eine wahre Schande." Ich beuge mich leicht zu ihr vor und flüstere ihr ins Ohr: „Er wird dich brauchen. Interessier dich nur ein bisschen für ihn. Thomas ist nicht so, wie ich. Er wird dir eine zweite Chance geben." Meine Mutter umarmt mich. Ihre Tränen perlen auf meine Haut. Als Thomas nun auch zu mir kommt, kann ich nicht anders und muss ebenfalls erneut weinen.
„Die Zeit ist um!" Wir schrecken zusammen, als der Friedenswächter von vorhin hereinplatzt. An dem Blick meiner Mutter erkenne ich, dass sie diesen Friedenswächter kennt. Aber es kann nicht mein Vater sein. Er hat schwarze Haare. Da die meiner Mutter ebenfalls schwarz sind, muss ich meine rötlichen Haare aber von meinem Vater haben. Jedenfalls, wenn man beachtet, dass meine Vorfahren mütterlicherseits alle dunkle Haare hatten. Allerdings kann ich nicht ausschließen, dass dieser Mann der Vater von Thomas ist... „Du schaffst das, April." Die Tatsache, dass Thomas meinen Erstnamen ausspricht, verdeutlicht den Ernst der Lage. Es ist vielleicht der letzte Moment, in dem ich ihn sehe. „Ich habe dich lieb!" Grob packt der Friedenswächter Mutter und Thomas und schleift sie hinaus.
DU LIEST GERADE
Blut schmeckt salzig Rache ist süß
ActionHaymitch Abernathy hat bei den 50. Hungerspielen das Kraftfeld genutzt, um seine letzte Gegnerin zu töten. Doch die Eltern des Mädchens sind von dieser unfairen Aktion gar nicht begeistert. Deshalb verspricht Präsident Snow dem Vater, der in diesem...