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Elouise Carter
Die Tür fällt hinter mir zu. Ein bedrohliches Gefühl breitet sich in meiner Brust aus. Es wird zu einem Stechen. Bitte nicht jetzt! Leicht panisch setze ich mich auf die verstaubte Fensterbank des Raumes. Einatmen. Ausatmen. Ein Pfeifen erklingt aus meinen Lungen. Einatmen! Ich hasse dieses Gefühl. Aber es ist nur ein Gefühl; ich werde nicht ersticken. Ausatmen. Pfeifen. Der Druck in meinem Brustkorb nimmt zu. Einatmen. Panisch wiege ich mich vor und zurück. Ich wurde für die Hungerspiele ausgelost. Ausatmen. Pfeifen. Einatmen. Ich werde in der Arena gegen dreiundzwanzig andere Jugendliche antreten müssen. Ausatmen. Pfeifen. Vielleicht bin ich schon bald tot. Einatmen! Hektisch sehe ich mich in dem Raum um, damit ich mich irgendwie beruhigen kann. Olivfarbene Vorhänge dimmen das Licht. Kalte, graue Steine strahlen eine unangenehme Distanz aus. In einer Ecke steht ein alter Holzschreibtisch. Auf wackligen Beinen gehe ich auf ihn zu. Ich gleite mit meinen Fingerspitzen über das Holz. Plötzlich fällt mir eine Unebenheit auf dem Tisch auf. Zoe Macson 13. Dieses Mädchen ist noch während des Gemetzels am Füllhorn gestorben. Ob sie ihren Namen in das Holz geritzt hat? Vielleicht wollte sie nicht, dass man sie vergisst?

Das Klacken der Türklinke schreckt mich aus meinen Gedanken. „Elou!" Emily kommt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu gerannt. Ich lasse mich in ihre Umarmung fallen. Tränen laufen meiner Cousine über die Wangen. Ihre Mutter kommt zu uns und umarmt uns beide, gibt uns Halt. „Deine Eltern hätten an dich geglaubt", flüstert Carla leise. Ich weiß nicht, was meine Eltern von meinem Schicksal gehalten hätten. Ich weiß nur, dass ich mich darüber freuen sollte, dass ich es niemals erfahren werde. Denn immerhin müssen mir meine Eltern nicht bei meinen Hungerspielen zusehen. „Legt gleich bitte zwei gelbe Blumen auf ihre Gräber, ja?", bitte ich Emily und Carla. Meine Tante nickt stumm. Mir fällt auf, dass sich mein Atem wieder beruhigt hat. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich für meine Familie stark sein will. „Wenn ich zurückkomme, müssen wir nie wieder auf den Plantagen arbeiten. Dann können wir den ganzen Tag leckeres Obst naschen, im Gras liegen und Zöpfe flechten." Emily lacht. „Wenn ich dich dafür zurückbekomme..." Ich umarme sie noch einmal. „Geht jetzt. Ich muss mich sammeln, damit ich nachher keine Fehler machen", bitte ich sie schweren Herzens. „Viel Glück!"

Kurz nachdem die Beiden gegangen sind, wird die Tür erneut aufgestoßen. „Das ist so unglaublich schrecklich!", begrüßt mich Martha aufgelöst. Lewis steht wie angewurzelt hinter ihr und sieht mich aus großen, grünen Augen an. „Ich werde euch vermissen." „Es ist ja kein Abschied für immer", meint Lewis. Ich kann die Hoffnung und die unausgesprochene Frage hören. Werde ich die Hungerspiele überleben? „Sie sollten dich nicht gehen lassen! Du bist krank. Das können sie nicht machen!" „Du machst einem Mut, Martha", ziehe ich meine Freundin auf. „Es klingt fast so, als würdest du mir unterstellen, dass ich durch mein Asthma irgendwie eingeschränkt bin." Martha beißt sich auf die Unterlippe. Doch, genau das wollte sie sagen. „Quatsch! Elouise kann genauso gewinnen, wie alle anderen sechzehnjährigen Mädchen, die Distrikt 11 jemals gestellt hat." Bei Louis Worten muss ich lachen. Es ist ein bitteres Lachen und bringt einen gewissen Schmerz mit sich. „Gut, dass Distrikt 11 so viele weibliche Sieger vorzeigen kann." Normalerweise bin ich nicht sarkastisch und diese Art von Humor war sowieso noch nie meine Stärke. Anscheinend beginnen die Hungerspiele mich jetzt schon zu verändern.

„Du kannst es trotzdem schaffen. Schließlich bist du schnell. Du hälst mehr aus, als alle Mädchen, die ich kenne. Und du kannst die Wurfmesser perfekt werfen." Ich mag Lewis für seine aufmunternden Worte. Nur weiß ich leider, dass sie gelogen sind. Denn ich treffe meine Ziele immer nur ungefähr. Zwar bin ich schnell, aber ein Asthmaanfall kann mich in der Arena umbringen.
„Darf ich dir etwas flechten?" Martha nickt und setzt sich vor mich auf den kalten Steinboden. Dabei ist es ihr egal, dass ihr schönstes Kleid schmutzig wird. Fahrig kämme ich die Haare meiner Freundin mit meinen Fingern. Ihre blonden Strähnen erinnern mich an die Sonne, die einem in unserem Distrikt Fluch und Segen zugleich bringt. Vorsichtig scheitle ich Marthas Haare. Eine blutige Axt taucht vor meinem inneren Auge auf. Prompt geht mein Atem stockend. Ob ich genauso, wie Rubina sterben werde? Mit einer Axt im Kopf? Das Pfeifen meiner Lungen erfüllt den Raum. Lewis stellt sich hinter mich und massiert mir vorsichtig die Schultern. Er will mich beruhigen. Dankbar lächle ich ihm zu.

Ich entschließe mich für einen anderen Zopf und verberge den Scheitel meiner Freundin, indem ich alle Haare nach hinten nehme. Langsam beginne ich zu flechten. Die monotone Arbeit beruhigt mich. Auf den Plantagen hat mich diese Arbeit immer erdrückt. Bücken, Erdbeeren pflücken, bücken. Klettern, Äpfel pflücken, weiterreichen, pflücken. Doch jetzt strahlt diese Routine Sicherheit aus.
Plötzlich beginnt Martha zu summen. Es ist unser Lieblingslied. In ihm muss jeder nur so viel ernten, wie er zum Überleben braucht. Alles wird gerecht geteilt. Mädchen tanzen mit Jungen. Niemand wird ausgegrenzt oder stirbt an Hunger. „Die Zeit ist um."

Das Blut scheint in meinen Adern zu gefrieren. Nun läuft Martha eine Träne über die Wange. Sie umarmt mich noch einmal und verlässt dann den Raum. „Ich glaube an dich, Täubchen." Plötzlich beugt sich Lewis zu mir und streift meine Lippen mit seinen. Dann verlässt auch er den Raum.
Verwirrt bleibe ich zurück. Was hatte dieser Kuss zu bedeuten? Zwischen Lewis und mir war doch nie etwas, oder? Hat er mich etwa schon die ganze Zeit geliebt und ich habe es nicht bemerkt? Erschöpft sinke ich zu Boden und singe das Lied weiter, das Martha zuvor gesummt hat.

Und sie tanzen gemeinsam,
tanzen über' s Feld.
Und sie lachen gemeinsam,
in ihrer heilen Welt.
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Blut schmeckt salzig Rache ist süß Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt