Was sie zwitschern

6 1 1
                                    

Thomas Smith
„Das liebe ich an den Erntetagen", verkündet Marcus und deutet auf den Wald. „Du meinst, dass wir hier unsere Ruhe haben?", gehe ich auf ihn ein. Marcus nickt grinsend. „Trotzdem würde ich lieber auf die Hungerspiele verzichten", wendet Hanna ein und rümpft ihre niedliche Stupsnase. Mein Blick wandert über ihre braunen Haare, die im Licht der Sonne schimmern. „Keine Angst, dir wird nichts passieren", flüstert Nelson und gibt Hanna einen Kuss auf die Stirn. Etwas in mir zieht sich zusammen. „Lasst uns klettern", bricht Marcus die Stille. Erst jetzt bemerke ich, dass er mich die ganze Zeit über angesehen hat. Ob er wohl ahnt, was ich für Hanna empfinde? „Wer als Letzter oben ist, muss sich heute freiwillig melden!", verkündet Hanna. Wir lachen, da wir wissen, dass sie es nicht ernst meint.

Nelson faltet seine Hände und hält sie Hanna hin, damit sie leichter an den ersten Ast über ihrem Kopf gelangt. Marcus zieht sich bereits den zweiten Ast empor. So langsam sollte ich mich beeilen. Ich setze zum Sprint an und springe, kurz bevor ich den Stamm der Sommerlinde erreiche, ab. Ein Ruck geht durch meinen Oberkörper, als ich mich an den Ast über mir klammere und durch meinen Schwung einige Male hin und herpendle. Doch ich genieße dieses Gefühl nicht, sondern ziehe mich sofort hoch. Während ich klettere, bleibe ich dicht am Stamm des Baumes. Durch meinen rasanten Aufstieg erheben sich einige Vögel von den Ästen und fliegen davon. Erst, als die Äste zu dünn werden, komme ich zur Ruhe und setze mich an den Baumstamm gelehnt. Mit kindlicher Eifer sehe ich um mich. „Gewonnen!", rufe ich. „Blödsinn, Thommy. Ich sitze hier schon seit Stunden." Irritiert suche ich nach Marcus, zu dem der Spott gehört. Mein Kumpel sitzt auf einer Kiefer einige Meter über mir und grinst mich triumphierend an. „Sei nicht traurig, du warst wirklich gut." „Wenn du das nicht so ironisch sagen würdest, könnte ich dich sogar ernst nehmen", entgegne ich nun auch wieder etwas besser gelaunt. Ich lasse meinen Kopf gegen den Stamm sinken und schließe die Augen. Die Vögel zwitschern ihre Lieder, begleitet von dem leisen Rascheln der Blätter. Ich atme tief ein und aus.

„Ich liebe dich Thomas." Überrascht reiße ich die Augen auf. Ich erwarte Hanna vor mir, doch stattdessen sieht mich ein dicker Vogel an. Verwirrt sehe ich mich um. Der Vogel öffnet seinen Schnabel erneut. „Ich liebe dich Thomas", sagt er mit Hannas Stimme. Ein Schnattertölpel. Zuerst breitet sich Trauer in mir aus, doch dann wird mir bewusst, dass Hanna diese Worte selbst gesprochen haben muss, damit der Vogel sie nun imitieren kann. Mit wagemutiger Hoffnung beuge ich mich vor und spähe durch die Blätter hinab auf Hanna und Nelson, die nebeneinander auf einer Astgabel hocken. Plötzlich zieht Nelson etwas aus seiner Tasche hervor. Dieser Gegenstand reflektiert das Licht, so dass ich nicht ganz erkennen kann, was mein Kumpel da in der Hand hält. „Willst du mich heiraten?" Ein weiterer Schnattertölpel landet neben mir und spricht die Worte mit Nelsons Stimme aus. Noch ein Vogel landet, diesmal auf meinem Knie. „Ja!" Verletzt packe ich den Vogel und drehe ihm den Hals um. Schockiert sehe ich auf meine Hände nieder, in denen der tote Vogel liegt. Ein Ast über mir knackt. Marcus lässt sich neben mir nieder. „Er konnte nichts dafür." Marcus durchdringender Blick ruht auf dem toten Vogel. „Du musst es akzeptieren, Thommy. Hanna und Nelson heiraten. Sie werden zusammenziehen und sehr wahrscheinlich auch Kinder bekommen. Du wirst Trauzeuge sein und vielleicht der Patenonkel der Kinder. Aber du wirst niemals der Bräutigam oder der Vater sein. Sieh es ein." Der Ast unter mir bricht und ich falle in die Tiefe.

„Ich habe dich." Ich bin nicht gestorben. Stattdessen hält mich Mary in ihren kleinen Armen. „Wo sind wir? Warum lebe ich noch?" „Wir sind in den Hungerspielen, Thomas." Ich sehe meine kleine Schwester ganz verdattert an und löse mich aus ihren Armen. Besorgt fühle ich an Marys Stirn, ob sie Fieber hat. „Lass das!" „Aber Mary, du bist erst acht Jahre alt. Du kannst nicht gezogen worden sein!" „Doch. Die Regeln wurden kurzfristig geändert. Aber Thomas... Wir sind die Letzten in der Arena. Ich habe alle anderen ausgeschaltet." Erst jetzt bemerke ich die leblosen Körper um mich herum. Es sind Mädchen und Jungen, klein, groß, hübsch, hässlich... „Das glaube ich dir nicht Mary. Das kannst du nicht gewesen sein." „Oh doch. Dich werde ich jetzt auch töten." Mit vor Schreck geweiteten Augen sehe ich auf den goldenen Reifen, den Mary hinter ihrem Rücken hervorholt. Sie legt ihn um meinen Hals. „Was?" Doch mehr kann ich nicht sagen, da sich der überdimensionale Ehering zusammenzieht und alle Luft aus meinen Lungen presst.

Keuchend wache ich auf. Mein Shirt klebt verschwitzt an meinem Körper. Ein Traum... Langsam komme ich wieder zu Verstand. „Du wirst gewinnen Thomas. Und wenn du zurück in deinem Distrikt bist, erhältst du endlich die wohlverdiente Aufmerksamkeit, auch von Hanna. Sie wird Nelson nicht in deiner Abwesenheit heiraten. Der erste Schnattertölpel in deinem Traum hat die Wahrheit gezwitschert", rede ich mir leise ein und lösche das Licht wieder.
************

Blut schmeckt salzig Rache ist süß Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt