22. Kapitel

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FABIANS SICHT

Als erstes schreibt mir Lucy, dass ich ihre Sachen mitbringen soll und jetzt, dass ich nicht kommen soll.
Mit der Begründung, dass sie erkältet ist.
Das hört sich für mich alles ein bisschen komisch an. Deswegen gehe ich trotzdem zu Lucy, mit ihren Anziehsachen im Gepäck. Mir egal, wenn sie nicht da ist und ich auf sie warten muss. Ich habe Angst, dass Lucy etwas macht, was sie später bereut.
Ich habe ein ganz komisches Gefühl im Bauch. Dieses Gefühl hatte ich auch bei Louisa und meinem Vater. Das Gefühl hat mich nicht im Stich gelassen. Ich kann mich auf meinen Bauch verlassen.

Ich schüttel mein Kopf, damit ich die Gedanken los werde. Mich macht es nur wieder traurig, wenn ich daran denke. Und ich will nicht traurig sein. In der Vergangenheit war ich das schon genug. Jetzt ist es Zeit Spaß zu haben. Am liebsten mit Lucy. Auch wenn wir nur Harry Potter geguckt haben, war es einer meiner schönsten Tage, die ich je hatte. Albern, wenn man bedenkt, was wir gemacht haben. Nur Filme zu gucken scheint kein Spaß zu machen, doch den hatten wir. Ich habe es genossen und möchte dieses Gefühl noch einmal erleben. So oft wie es nur geht.

Ich will neben Lucy sitzen und ihr Lachen hören. Ihre schönen grünen Augen, die mich anstrahlen, ansehen. Ihr schönen rosenhaften Duft einatmen, wenn ich sie umarme. Ich will einfach nur bei ihr sein.

Ist das Liebe oder einfach nur Freundschaft? Ich will mich nicht verlieben. Wer sagt, dass es Liebe sein muss? Vielleicht ist es ja auch normal so zu fühlen. Ich hatte noch nie eine Freundschaft mit einem Mädchen. Das kann ja normal sein, wenn ich so fühle. Inständig hoffe ich es.

Ich setze mich vor die Haustür von Lucy. Sie ist nicht da oder sie macht selbst nach meinem Sturmklingeln nicht auf. Ich werde hier so lange sitzen, bis sie da ist. Dann will ich herausfinden, was mit ihr los ist. Sie zur Rede stellen.

LUCYS SICHT

Warum steht der Name meines Bruders auf der Klingel?
Ich verstehe die Welt nicht mehr. Die Welt steht Kopf. Wohnt mein Bruder dort? Da, wo wir einst zusammen wohnten? Weshalb laufe ich weg und klingel nicht? Will ich nicht unbedingt mein Bruder kennenlernen?

Mein Kopf fängt wieder an zu pochen. Ich will nicht und kann nicht mehr. Es soll alles ein Ende haben.
Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Rein gar nichts verstehe ich.

Statt zurück zu laufen, steige ich in den nächsten Bus, der kommt, ein.
Ob das der richtige Bus ist, weiß ich nicht. Irgendwie werde ich schon nach Hause kommen, an einem Ort, wo ich gar nicht hin will.

Ich will dort nicht alleine sitzen und nicht wissen, was ich machen soll. Fabian will ich aber auch nicht bei mir haben. Es ist alles so kompliziert und wahrscheinlich mache ich es mir selbst schwer. Definitiv sollte ich nicht in diesem Bus sitzen, sondern bei meinen Bruder klingeln. Wenn er es denn ist.

Vielleicht gibt es auch mehrere mit dem Namen Christoph Schmidt.
Der Name kann ja weit verbreitet sein. Einen Chris kenne ich schon. Sein Nachname ist mir fremd, aber ich bin sicher, das er ihn schon einmal erwähnt hat. Sich Namen zu merken, gehört nicht zu meinem Spezialitäten.

Was ist, wenn ich meinen Bruder schon kenne? Das ist aber unwahrscheinlich. Warum sollte ich ihn denn schon kennen? Wir würden uns wahrscheinlich ähnlich sehen, aber ich habe noch niemand gesehe, bei dem man denken könnte, dass wir verwandt sind. Das einzige, was ich mal gesehen habe, sind Chris Augen. Sie sind genauso wie meine. Aber es gibt hunderte Augen, die so aussehen, das wäre zu einfach und das Chris mein Bruder ist, kann ja auch nicht sein. Das Alter könnte passen, aber sonst nichts. Ich kenne seine Vergangenheit nicht. Vielleicht kann es ja doch sein. Nächstes mal werde ich ihn einfach ein bisschen ausfragen. So, dass man kein Verdacht schöpft.

Aber er hat erzählt, dass er keine Geschwister mehr hat. Also ist sie oder er gestorben. Deswegen kann ich es ja nicht sein. Ich bin noch lebendig. Vielleicht nicht mehr so wie vor ein paar Tagen, aber immerhin lebend.

Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Chris mein Bruder wäre. Es wäre doch viel zu einfach und das Leben ist nicht einfach. Vorallem bei mir momentan. Bei mir ist das Gegenteil der Fall. Das wird mir auch wieder klar, als ich nach Hause gehe und von weitem Fabian sehe. Zum Glück war es der richtige Bus, inden ich eingestiegen bin.

Fabian sitzt gegen meine Haustür gelehnt. Geschockt bleibe ich stehen. Irgendwie war das klar.

Vorbeischleichen wird wohl nicht funktionieren. Und auf Superman habe ich keine Lust. Ich lerne aus meinen Fehler. Nicht aus allen, aber aus vielen.

Zum Zurückgehen ist es jetzt auch zu spät, den Fabian hat mich gesehen und steht auf. Er kommt mir nicht entgegen. Er wartet, dass ich von alleine zu ihm komme. Ich habe ihn angelogen. Habe geschrieben, dass ich erkältet bin. Eine sehr schlechte Lüge. Ich hätte irgendwas besseres schreiben sollen, z.B. das ich eine Lebensmittelvergiftung habe. Dann wäre er nicht gekommen.

Mir muss ja auch nur eine Erkältung einfallen. Außer das ich heiser bin und einfach scheiße aussehe, habe ich nichts von einer Erkältung. Ich habe jetzt schon ein schlechtes Gewissen, dass ich Fabian angelogen habe. Und dann auch noch so schlecht.

Ich löse mich von meiner kleinen Schockstarre und gehe auf Fabian zu. Langsam und bedacht. Jeder Schritt ist gewählt. Ich habe Angst, dass Fabian sauer auf mich ist. Es wäre verständlich. Deswegen würde ich ihm keine Vorwürfe machen.

"Hallo",krächze ich.

Fabian guckt mich mit seinen blauen Augen an. Ein komischer Schein ist darin zu sehen. Mir macht es etwas Angst.

"Du siehst nicht krank aus, nicht erkältet, wie du es mir geschrieben hast",meint er.

Ich weiß nicht was ich dazu sagen soll.

"Bist du sauer",frage ich.

Mein Kopf ist zum Boden gesenkt. Auf einmal scheint der Boden sehr interessant zu sein. Ich will einfach nicht in Fabians Gesicht sehen, wenn er sagt, dass er sauer ist.

"Nein, bin ich nicht",flüstert er und nimmt mich in den Arm.

Ich genieße den kurzen Moment der Zuneigung. Das, was ich so dringend brauche. Jemand, der mir bei allem hilft. Der mir sagt, dass alles gut werden wird, auch wenn wir beide wissen, dass es nicht so ist. Doch es kann nie gut werden, denn ich darf keinen etwas davon erzählen. Und ich dumme Kuh bin zu feige, diese Klingel zu betätigen um zu gucken, ob es mein Bruder sein könnte. Ich bin ein Feigling. Das wird mir wieder einmal bewusst.

Sophia sagt, ich bin ein taffes Mädchen, das sich von keinem runter machen lässt. Ein Mädchen, das mutig ist und immer durchhält, egal bei welcher Sache. Das ich ein Schutzschild aufgebaut habe und nur wenige Personen nicht daran abprallen lasse.

Damals habe ich gesagt, das sie recht hat. Jetzt kann ich nur noch sagen, dass ich feige bin und von Situation weglaufe, dir mir Angst machen. Nicht immer, aber immer öfter. Mein sogenanntes Schutzschild fängt an kaputt zu gehen. Nur kleine Löcher, aber sie wachsen.

Ich habe Angst davor, was mir die Zukunft bringen wird, was alles noch passieren wird. Ob ich mein Bruder treffen werde, besser gesagt, ob ich mich traue zu klingeln.
Wie meine Adoptionseltern zu mir stehen werden.

Diese Gedanken, oder Fragen schwirren in meinem Kopf, als ich immer noch in Fabians Arm vor meiner Haustür stehe. Die Umarmung dauert länger, als normale. Ich fühle mich wohl bei ihm. So, als ob ich Zuhause angekommen wäre. Es hört sich idiotisch an.

Eines ist mir klar geworden. Ich muss jemandem von meinem neuen Geheimnis erzählen. Egal, ob ich das darf oder nicht. Irgendwann würde ich an diesem Geheimnis ersticken, wenn ich meine Probleme mit keinen anderen teilen kann.

Da Fabian schon angeboten hat mir zu zuhören und ich ihn vertraue, werde ich mich ihm anvertrauen. Vielleicht wird es ein Fehler sein, wenn ich es einem fast Fremden erzähle. Vielleicht wird es auch gut für mich sein. Zwischendurch muss man mal etwas im Leben riskieren.

"Fabian du hast gesagt, ich kann dir erzählen was mich bedrückt. Das werde ich auch. Kannst du das Geheimnis sicher aufbewahren? Du darfst es keinem sagen, wirklich keinem. Nicht einmal Sophia, oder deiner Mutter.",sage ich gegen seine Brust.

Wenn er es mir verspricht, dann werde ich es Fabian sagen. Ein kleiner Teil von mir hofft, dass er es nicht machen kann, damit er nicht in Gefahr ist. Ich halte meine Luft an, als Fabian anfängt zu reden.

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