24. Kapitel

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Erst ist Fabian überrascht, dann erwidert er den Kuss. Der Kuss hat etwas tröstliches an sich. Er sagt etwas aus, dass kein Wort der Welt beschreiben kann. 

Ich genieße den kleinen Moment, wo nur Fabian und ich existieren. Wo nur unsere Lippen etwa zu tun haben. Wo wir unsere Trauer über unsere Liebenden vergessen können. Wo nur mein Bauchgekribbel zu spüren ist, bis Fabian sich ruckartig von mir löst.

"Ich, wir sollten das nicht machen. Ich... ich muss weg. Sorry", stottert er und läuft raus zur Tür.

Ich bemerke nur noch nebenbei wie Fabian die Tür zuschlägt. Ich sinke auf den Boden. Sofort bereue ich, was ich getan habe. Es war ein Fehler.

Warum muss ich dumme Kuh ihn auch küssen? Ich bin so dumm. Jetzt ist meine Freundschaft zu ihm kaputt und das alles wegen diesem scheiß Kuss. Keine Ahnung, was mich dazu geführt hat.

Wieder einmal kullern mir die Tränen aus den Augen. Am liebsten würde ich gegen irgendetwas schlagen. Meine ganze Wut, die ich auf mich selbst habe, herauslassen. Aber auf was soll ich denn schon schlagen? Ich bin ein Haufen Elend. Ein Haufen Elend, der für nichts gut ist, den keinen braucht. Wer braucht mich schon?

Sophia? Die kann sich eine neue Freundin suchen.

Chris? Ich kenne ihn nicht wirklich. Vermissen wird er mich nicht.

Fabian? Unsere Freundschaft habe ich mit dem Kuss zerstört.

Christoph? Mein Bruder braucht mich auch nicht. Er hat 14 Jahre ohne mich gelebt. Wahrscheinlich weiß er nicht mehr, dass es mich gibt.

Meine Eltern sind sonst wo. In Afrika, in der Antarktis könnten sie sein. Vielleicht auch in der Türkei. Als ob sie sich dort Gedanken über mich machen.

Meine ach so lieben Adoptiveltern sind auf Geschäftsreise, anstatt bei mir zu sein. Ihnen ist es egal, was ich mache.

Sie brauchen mich nicht. Keiner braucht mich, keiner würde mich vermissen!

Ich stehe auf und betrachte die Fotos, auf der Fensterbank. 
Die Fotos zeigen eine glückliche Familie. Eine Lüge, da wir keine Familie sind. Habe ich nicht vor ein paar Tagen noch gedacht, dass meine Adoptiveltern immer meine Eltern bleiben werden? Wie sich alles so schnell ändern kann.

Claudia und Matthias haben auf dem Bild ein Arm um mich geschlungen.
Das Bild ist in unserem Garten entstanden, der Grill steht neben uns. Wenn ich mich richtig dran erinere, war es an einem Geburtstag von mir. Schon ein paar Jahre her. Ich war noch etwas kleiner, und sah kindhaft aus.

Auf einem anderen Foto bin ich im Tanzstudio. Hochkonzentriert stehe ich auf meinen Zehenspitzen. Ich sehe elegant und wie ein Fabelwesen aus. Auf den Foto sehe ich stark aus, genau das Gegenteil war der Fall. An dem Tag bin ich die ganze Zeit hingefallen. Nichts hat funktioniert. Auf dem Bild hingegen sieht es so aus, als ob alles gut wäre. Man sieht die Tränen nicht, die mir die ganze Zeit vom Schmerz durchs Gesicht gelaufen sind. Mir tat der ganze Körper weh.
Ich wollte nicht aufhören, weil ich unbedingt diesen einen Sprung lernen wollte. Matthias hat dann ein Foto gemacht, nachdem ich es geschafft habe, damit ich mich immer dran erinnern kann, dass alles, was ich schaffen will, ich auch schaffen kann. Trotzdem ist dieses Bild ein Lüge.

Ein anderes Foto zeigt mich auf dem Flügel spielen. Das ist gerade mal einen Monat her. Ich sehe traurig aus, aber das war ich nicht. Mein Blick ist kalt nach vorne gerichtet, der Rücken gerade gestreckt. In dem Moment war ich nicht traurig. Ich habe die Musik genossen.

Alle weiteren Fotos sind auch Lügen. Wut kocht in mir auf. Alles in meinen Leben ist eine Lüge. Wutentbrannt schmeiße ich die Bilder von der Fensterbank. Ich will keine einzige Lüge mehr in meinem Leben. Was habe ich getan, dass in meinen Leben alles falsch läuft?  War ich in meinem früheren Leben ein Massenmörder? Habe ich Kinder vergewaltigt?

Something True Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt