Träume

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Anemos, der Windmagier mit den von Natur aus weißen, abstehenden Haaren, stellte sich grinsend neben Matteo und Cathéa. „Das war super! Wie hast du es hinbekommen?". In seinen sonderbar violetten Augen funkelte Neugierde auf. Cathéa überlegte kurz und antwortete: „Ich weiß nicht... Wahrscheinlich liegt es daran, dass er vielleicht meine Gedanken, aber nicht meinen Stolz kontrollieren kann". Diese Aussage brachte die beiden Jungen zum Lachen, ehe Anemos strahlend vorschlug: „Wie wäre es, wenn wir beide mal gegeneinander kämpfen? Eis gegen Wind! Das wird bestimmt spannend." Cathéa nickte begeistert. „Super Idee!". Er grinste sie noch einmal fröhlich an, dann lief er an den Beiden vorbei wieder ins Haus.

„Weißt du, was ich mich immer wieder frage?", fragte Matteo Cathéa mit einem nachdenklichen Blick. „Was denn?", erkundigte sie sich und legte den Kopf leicht schief. „Wie ist es möglich, dass Anemos violette Augen hat?". Diese Frage hatte auch Cathéa sich manchmal gestellt, und zuckte ratlos mit den Schultern. Jemand räusperte sich hinter ihnen. „Ich hab mal etwas darüber gelesen. Wenn das eine Elternteil blaue Augen hat, und das andere Elternteil ein Mensch mit Albinismus und roten Augen ist, kann es durchaus dazu kommen, dass das Kind violette Augen bekommt." Sowohl Cathéa, als auch Matteo zuckten leicht zusammen, da keiner von ihnen Laika bemerkt hatte, und schauten sie nach ihrer Erzählung verwundert an. „Wie cool. Wusste ich nicht", meinte Cathéa anerkennend. Matteo dachte kurz nach, und sagte anschließend: „Stimmt, Anemos ist ja auch ein Albino... Interessant, jetzt wissen wir etwas über seine Eltern."

Laika nickte leicht. Sie wollte auch etwas über ihre Eltern erfahren. Unbedingt. Womöglich waren sie ja sogar noch am Leben. Sie wollte alles erfahren, was es über ihre Eltern zu erfahren gab, also begann sie sich Gedanken zu machen, wie sie das ermöglichen konnte.

*
„Ist Joel wirklich immer noch in eurem Zimmer?", fragte Cathéa Matteo ungläubig. Sie hatten sich in das geräumige Wohnzimmer zurückgezogen, und von Joel fehlte noch immer jegliche Spur. Matteo nickte knapp. „Jepp, ich hab grad nachgesehen. Er ist echt ein schlechter Verlierer." Cathéa seufzte und scherzte: „Soll ich ihn beim nächsten Mal etwa gewinnen lassen?". „Keine schlechte Idee", meinte Matteo nachdenklich und ließ sich neben sie auf das Sofa fallen. „Das war ein Witz. Egal was er tut, ich würde Joel niemals gewinnen lassen", stellte sie lachend klar. Matteo grinste schief.

Kurz darauf schaute sie wieder zu ihm, und bemerkte, dass er plötzlich in Gedanken versunken war. Cathéa betrachtete ihn mit leicht schiefgelegtem Kopf. Man sah, dass er nicht über irgendetwas nachdachte, sondern dass er nur vor sich hin träumte. Einfach so. Das war auch der Grund, warum Rosalia ihm Illusionsmagie beigebracht hatte; Matteo war ein richtiger Träumer.

Vor ihnen tauchte aus heiterem Himmel ein winziges Flugzeug auf, welches durch das Zimmer flog und hinterließ Kondensstreifen in Formen oder Buchstaben. Matteo merkte gar nicht, dass er versehentlich eine Illusion geschaffen hatte, und betrachtete verträumt den Flieger. Cathéa grinste leicht. In diesem Modus war er richtig niedlich, wie ein kleiner Junge.

Milan, Matteos großer Bruder, war genau wie er, aber gleichzeitig das komplette Gegenteil; Was Milan sich vorstellte, versuchte er auch zu realisieren. Dementsprechend beherrschte er die gleiche Magie wie sein kleiner Bruder, nur, dass die Dinge, die er sich vorstellte, real wurden und nicht nur Illusionen blieben.

Cathéa beobachtete weiterhin die Träumereien von Matteo. Sie erinnerte sich, damals, als sie noch jünger waren und Taynara und Coco noch nicht angefordert hatten, dass Mädchen- und Jungenzimmer getrennt werden sollten, hatte sie oft bei Joel und Matteo im Zimmer übernachtet. Manchmal hatte sie, wenn er schon schlief, durch seine Illusionsmagie Matteos Träume mitverfolgen können. Manchmal waren es lustige, schöne oder wirre Träume, aber es gab da auch diesen einen traurigen Traum, der immer wieder kam.

In diesem Traum sah man Alles aus der Sicht des dreijährigen Matteo. Es fing damit an, dass er auf dem Boden von einem Zug saß und mit dem damals siebenjährigen Milan Autos spielte. Sie waren beide fröhlich und lachten die ganze Zeit. Einmal in dem Traum schaute Matteo zur Seite und schaute zu einem Ehepaar, der Mann schwarze Haare und grüne Augen, wie Milan, und die Frau blonde Haare und blaue Augen. Sie lächelten den kleinen Matteo an, ehe er sich wieder zu den Autos drehte. Plötzlich wackelte das Bild, er wurde unter die Sitze geschleudert, genau wie sein großer Bruder. Das Licht in der Bahn fiel plötzlich aus, man hörte Gekreische und Geklirre, der Zug war mit voller Wucht in irgendetwas hereingekracht. Man sah aus der Sicht von Matteo, wie er unter den Stühlen hervorkrabbelte und hörte, wie er ängstlich nach seinen Eltern rief. Sein Vater hing schlaff in einem der Fenster, welches durchgebrochen wurde, und seine Mutter hatte eine klaffende Wunde am Kopf, während sie mit glasigem Blick auf dem Boden lag. „Mama!", hörte man Matteo rufen, während er zu ihr rannte, und die Sicht verschwamm etwas. Man sah, wie von oben Tränen auf ihr Gesicht tropften. „Mama..." Dann verschwamm die Sicht endgültig, und der Traum war zuende.

Cathéa schauderte bei der Erinnerung daran. Soweit sie wusste, waren Matteo und Milan die einzigen der Magier, die eine klare Erinnerung an den Tod ihrer Eltern hatten. Sie fragte sich, ob Matteo dieser Traum immer noch plagte. Dieser war derweil nicht mehr am Träumen, sondern schaute nur gut gelaunt zu Cathéa. Er hatte es ziemlich gut weggesteckt, dass er seine Eltern sterben gesehen hatte.

„Wollen wir wieder in die Stadt?", fragte er sie lächelnd. „Gerne", antwortete sie und schüttelte kurz den Kopf, um wieder ins Hier und Jetzt zu kommen, bevor sie aufstand. „Wohin genau?". Matteo zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht, einfach nur herumlaufen." Cathéa lächelte und sagte: „Okay." Matteo stand ebenfalls auf, und gemeinsam gingen sie zur Haustür. Als Cathéa sie öffnete, stand aber draußen jemand und wollte wohl genau in dem Moment klopfen.

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