Kapitel 23

533 31 7
                                    

Wir waren ruhig. Niemand sprach, alle hingen ihren Gedanken nach, gaben sich ihren Träumen hin. Oder machten sich so Gedanken wie ich es tat. Es war ruhig, doch es war nicht diese unangenehme Ruhe des Schweigens, sondern eine Ruhe, die alle genossen. Wir fühlten uns wohl, wenn wir alle zusammen waren. Und das war doch die Hauptsache, oder nicht?

Wenn ein Mensch sich wohl fühlt, geht es ihm automatisch besser. Er fühlt sich besser, er fühlt sich stärker, er fühlt sich manchmal sogar unbesiegbar. Und das ist wichtig. für alles, was ein Mensch tut. Wenn ein Mensch sich nicht wohl fühlt, wird er so niemals auftreten. Er wird niemals das Gefühl haben, etwas besonders zu sein. Doch ich finde, jeder Mensch hat das Recht, sich einmal in seinem Leben besonders zu fühlen. Aber nicht besonders, weil er viel Geld hat. Nein, besonders, weil seine inneren Werte zählen. Besonders weil er von anderen geliebt wird. Besonders weil er etwas an sich hat, was jemand anderer an ihm liebt. Und ich fühle mich geliebt. Geliebt von Amalia, auf eine freundschaftliche Art und Weise geliebt von Luke und den anderen. Und vielleicht sogar geliebt von Thomas. Geliebt von meinen verstorbenen Großeltern. Geliebt von meinen alten und neuen Freunden.

Und es gibt so viele Menschen, die geliebt werden, ohne das sie es wissen. Und es gibt so viele Menschen, die jemand anderen lieben, ohne das derjenige es wirklich weiß.

Jeder Mensch hat etwas besonderes. Eine besondere Gabe, ein besonderes Talent. Und es gab Menschen, die waren einfach von haus aus besonders, weil sie eine innere Stärke hatten. Weil sie sich nicht von ihrem Weg abbringen ließen. Weil sie von etwas sehr starkem geprägt waren, doch trotzdem nicht aufgaben.

" Tessa?"  Leise durchzog mein Name die Stille. " Ja?" Kurz kam keine Antwort, dann drang eine sanfte Stimme an mein Ohr. " Was machen wir hier? Was suchst du hier?" fragte Avery. Meine Augen suchten ihre. Still sah sie mich an, meine Antwort abwartend.

Ja, was suchte ich wirklich hier? Freiheit. Doch mittlerweile war ich mir sicher, dass ich hier nicht nur Freiheit suchte. Ich suchte noch etwas anderes. Etwas, von dem ich mir immer gedacht hatte, dass es sie nicht gibt. Ich war auf der Suche nach der wahren Liebe. Ich wusste nicht, ob es wirklich Thomas war. Ich wusste nur, dass ich ihn besser kennen lernen wollte.

" Freiheit. Ich suche Freiheit. Ich suche das, was ich all die Jahre nicht haben konnte. Ich suche mich selbst. Meine wahren Stärken, meine wahren Schwächen.  Doch ich glaube, dass ich mittlerweile mehr suche, als nur Freiheit. Ich suche Liebe. Ein Gefühl, dass ich nicht beschreiben kann. Ich suche alles, was ich all die Jahre davor nicht hatte. Vielleicht suche ich auch ein bisschen mich selbst. Aber nicht nur meine Stärken und Schwächen, auch meine Grenzen. Ich suche die andere Tessa, die böse Tessa. Die Tessa, die sich nichts mehr sagen lässt. Die Tessa, die tut, was sie will. Die Tessa, die Spaß am Leben hat. Die Tessa, die über die Jahre in mir eingesperrt war. Vielleicht suche ich die lockere Tessa. Aber egal, wen ich finden werde. Ich werde frei sein. Ich werde mein Feuer finden und es frei setzen. Und wenn ich zurück kehre, wird es nicht aufhören zu brennen. Und egal, ob ich zurück kehre oder nicht. Ich werde die Tessa sein, die ich sein will. Ich werde mir nichts mehr vorschreiben lassen. Weder von meinen Eltern, noch von jemand anderen. Vielleicht werde ich heiraten. Doch nicht, wie es für mich vorgesehen ist. Sondern wie ich heiraten will. Ich werde mein Leben selbstständig gestalten. In meinen Farben, in meiner Größe. So wie ich es für perfekt halte. Wie ich es haben will."

Ich wusste nicht, woher ich plötzlich all die Worte genommen hatte, aber es tat gut, einmal all das zu sagen, was ich sagen will.

" Ich habe es satt, noch der Pfeife meines Vaters zu tanzen. Ich mag seine Tochter sein, doch er hat nicht einmal annährend das Recht, meine Entscheidungen für mich zu treffen, Er hat nicht das Recht mir zu sagen, was ich anziehen soll, wie ich mich verhalten soll, mit welchen Leuten ich mich abgeben soll, wen ich heiraten soll. Und doch tut er es. Und das will ich nicht, ich will für mich selbst Entscheidungen treffen, ich will mir selbst aussuchen wo und mit wem ich lebe. Die Zeit, in der ich dies selbst nicht tun konnte ist lange vorbei. Ich habe gelernt, eigene Entscheidungen zu treffen, ob sie gut oder schlecht sind. Ich lebe mit den Konsequenzen, nicht er. Und es ist mir egal, ob er einen Erben für sein Geschäft bekommt, ob er mit der Hochzeit Geschäfte mit Thomas' Vater treffen kann. Es ist mein Leben, es sind meine Entscheidungen. Und ich werde entscheiden, wie ich es für richtig halte."

Es war ruhig, alle Augenpaare waren auf mich gerichtet. Alle starrten mich an. Am erstauntesten war jedoch meine beste Freundin. "Wow. Ich habe schon so lange darauf gewartet, dass du das endlich einmal sagst. Ich dachte schon, das kommt nie." Ihre Augen glitzerten vor Stolz. Ich konnte nicht anders, ich musste lächeln.


" Wie sagst du immer so schön? Dinge verändern sich, Geschmäcker verändern sich, die Natur verändert sich. Sogar das Aussehen verändert sich.  Alles verändert sich irgendwann. Manches schnell, manches langsam. Manchmal stärker, manchmal schwächer. Und so wie sich alles andere verändert, verändern sich auch Menschen. Und auch bei Menschen kann sich so viel verändern. Das Aussehen, das Alter, die Einstellung. Positiv sowie negativ. Und so wie sich alles verändert, verändere auch ich mich. Ich habe manchmal am Abend im Bett über dich nachgedacht Amalia. Über das, was du gesagt hast. Und letztens im Hotel, da kam mir die Erkenntnis, dass du recht hattest. Mit allem ,was du gesagt hast. Mit allen Wörtern ,die über meinen Vater verloren hast. Und ich war vollkommen blind, dass ich mir alles habe sagen lassen. Und dann kam mir die Erkenntnis erst so wirklich. Manche Dinge müssen sich verändern. Und so habe ich mich verändert. Und ich werde nie wieder zulassen, dass jemand anderes  die Entscheidungen für mich trifft. Egal ob sie gut oder schlecht sind. Mein Leben, meine Entscheidungen. Und ich lebe mein Leben so, wie ich es für richtig halte, wie es mir passt. Und so, wie ich mich am wohlsten fühle. Nicht, wie jemand anderes glaubt, dass es gut für mich ist. Und solange ich lebe, werde ich selbst entscheiden."


" Wie ich es für richtig halte."

Diese Worte hallten in der Nacht wie ein Echo in den Bergen.



Under the Mistletoe Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt