Wind zerrt an meiner Mütze, als ich durch den Park laufe, meine Hände in den Hosentaschen vergraben. Der Herbst ist eindeutig nicht meine Jahreszeit.
Und doch werde ich meine beste Freundin nicht im Stich lassen, die sich an diesem kalten Tag einsam fühlt. Weil ich das nicht zulassen kann, habe ich mir meinen Mantel und Schlüssel geschnappt, die Schokoladentafel, welche erstaunlicherweise über eine Woche überlebt hat, in meine Jackentasche gesteckt und bin zur Tür herausgegangen. Nur, um mich sofort wieder umzudrehen, in meine Wohnung zurückzugehen und mit einer meiner Mützen auf dem Kopf wieder das Haus zu verlassen.
Nachdenklich beobachte ich die Kinder, welche in den Blätterhaufen spielen, und schreite dabei selbst durch das unter meinen Füßen raschelnde Laub, welches in allen Farben zu leuchten scheint.
Dabei fällt mir ein weißes Blatt auf, das eindeutig nicht hierher gehört.
Ungläubig hebe ich das Papier auf, ärgere mich darüber, dass Leute ihren Müll nicht in die extra aufgestellten Eimer schmeißen können und stopfe den Zettel zu der Schokolade in meine Tasche.
Dann gehe ich den restlichen Weg zu meiner Freundin, ohne weiter daran zu denken.„Ich dachte schon, du kommst nie!", meint Kirstie vorwurfsvoll, als ich mich in ihre gemütlich warme Wohnung dränge.
„Es ist kalt!", schimpfe ich und werfe meine Mütze in irgendeine Ecke.
„Was du nicht sagst", meint sie trocken und fischt meine Kopfbedeckung aus einer Vase, die eben garantiert noch nicht dort stand.
„Sorry, Süße. Ich musste meiner Kleinen doch was mitbringen", grinse ich und ziehe die Schokolade aus meiner Tasche, bevor auch meine Jacke den Weg auf den Boden einschlägt.
Dabei fällt der Zettel aus dem Park mit heraus und ich trete ihn verärgert weg.
„Was ist das?", fragt Kirstie und schaut interessiert dem Blatt hinterher, während sie fordernd ihre Hand nach der Schokolade ausstreckt. Typisch.
„Keine Ahnung, lag im Park, kannst du haben", sage ich schulterzuckend und gehe in ihre offene Küche, um heiße Schokolade zu machen.
„Hey, ich habe Müll geschenkt bekommen!", lacht sie gespielt begeistert und kommt mir langsam nach, während die Milch auf dem Herd langsam anfängt, zu kochen. Nachdenklich schaue ich die Tafel an, welche Kirstie in der Hand hält, schnappe sie mir und werfe die Hälfte mit in den Topf. Vielleicht funktioniert es ja.
„Das! Ist! Total! Cool!", kommt es von meiner Freundin, als sich die Stückchen aufgelöst haben und nur noch eine wunderbar duftende Flüssigkeit übrig ist, die ich in zwei große Tassen fülle.
„Das! Ist! Müll!", kommentiere ich und trage die zwei Becher ins Wohnzimmer, wo ich den Fernseher einschalte.
„Hast du dir das mal angeschaut?!", fragt Kirstie und hält mir den Zettel vor die Augen.
„Nein! Es! Ist! Müll!", meine ich genervt und schlage das Papier weg.
„Du bist so dämlich! Wenn überhaupt, dann ist das der Müll schlechthin! Das hier, mein Freundchen, ist eine verdammte Einladung zum..." In dem Moment schlage ich ihr, zugegeben, vielleicht etwas unsanft, meine Hand auf den Mund, um sie zum Schweigen zu bringen, denn im Fernsehen wird das Topthema der Woche erwähnt.„Scott Hoying, Veranstalter des Abends und momentaner Teenieschwarm Nummer Eins hat insgesamt nur 30 der Einladungen in der ganzen Stadt verteilt. Jeder soll die Chance haben, eine von ihnen zu finden, meint der Sänger in einem Interview. Schon am heutigen Abend findet der Maskenball statt. Die glücklichen Finder der Karten treffen um 10 Uhr im Schloss zusammen und werden mit Scott seinen Geburtstag feiern. Auch wir sagen alles Gute und viel Spaß auf dem Fest!"
„Er ist so süß!", hauche ich, stelle den Fernseher auf Lautlos und wende mich wieder Kirstie zu.
„Und du bist ein Idiot! Ein riesengroßer Idiot! Tu mir einen Gefallen und schau endlich, was hier steht!", seufzt sie und hält mir den Müll vor die Nase. Widerwillig schnappe ich mir das Papier und beginne mit immer größer werdenden Augen, zu lesen.Werter Finder,
Ganz gleich, wer du bist - ich lade dich herzlich dazu ein, am 17.09. zusammen mit mir und anderen Gästen einen märchenhaften Geburtstag zu feiern.
Das Fest wird um 22 Uhr im Schloss stattfinden.
Solltest du kommen, bringe bitte diese Einladung mit.Mit großen Augen wende ich mich wieder Kirstie zu.
„Du meinst... Das ist... Oh Gott...", stammele ich breit grinsend und lasse mich nach hinten gegen die Sofalehne fallen.
„Siehst du es jetzt ein, dass das kein Müll ist?", meint meine beste Freundin strahlend.
„Aber... Ich kann doch nicht... Ich meine, ich kann doch nicht einfach..."
„Da hingehen? Hallo? Du hast eine Einladung gefunden, sprichst seit Jahren nur noch von diesem Mann und träumst davon, zu dem Fest zu gehen, und jetzt willst du mir sagen, dass es doch nicht so wichtig ist? So nicht, mein Lieber. Ich fahre dich jetzt nach Hause und wir suchen dir etwas Schönes zum Anziehen raus, und dann gehst du da gefälligst hin. Gekniffen wird heute nicht", sagt sie bestimmt und zieht mich mit aus dem Haus in ihr Auto, ohne ihren Redeschwall abzubrechen.„Ich kann das nicht!", protestiere ich verzweifelt und zupfe an meinem weinroten Pullover herum.
„Ich schwöre dir, wenn du nicht in zehn Sekunden im Schloss bist, schmeiße ich dich hier raus und fahre weg! Mitchell Grassi! Du gehst jetzt sofort deinen Traummann erobern!", droht mir Kirstie und ich stolpere erschrocken aus ihrem Wagen.
„Okay, ich hole dich um Mitternacht wieder ab!", zwitschert sie und fährt weg, ohne mir die Chance zu lassen, wieder einzusteigen.
Und es ist kalt.
Zweifelnd drehe ich mich zu dem Schloss, schaue die Einladung in meiner Hand an, die hell erleuchteten Fenster.
Und wenn es nur eine Fälschung ist? Sie sieht so banal aus, die Karte.
Aber es ist kalt.
Mit zitternden Beinen stakse ich auf das prunkvolle Gebäude zu, das Blatt fest umklammert, Schritt für Schritt.
Wer hätte gedacht, dass Laufen so anstrengend sein kann.
„Ihre Einladung", fordert der Mann am Eingangstor und ich halte ihm das Papier hin, betend, dass es eine richtige Einladung ist.
„Viel Spaß auf dem Fest", meint der stämmige Wächter wenige Sekunden später und hält mir noch eine schwarze Maske hin, bevor er das Tor aufstößt und ich das Schloss betrete.Den riesigen Saal, in welchem das Fest stattfindet, habe ich schnell gefunden. Mit klopfendem Herzen bleibe ich dicht bei der Tür stehen, wage es kaum, zu atmen, als könne all das sofort zu Staub zerfallen, zu fernen Erinnerungen werden.
„Wollen Sie nicht tanzen?", werde ich plötzlich von einer unglaublich unnatürlich wirkenden Stimme gefragt. Neben mir steht ein... Nun ja, ein als Frau verkleideter Mann. Schwarze Locken fallen über seine Schultern, ein eleganter, lilafarbener Anzug, tailliert, bedeckt seinen Körper. Die schwarze Maske lässt ihn verwegen aussehen.
Und doch macht er das heute zum ersten Mal, er ist nicht oft eine Frau, dafür läuft er zu männlich. Kann die Tanzschritte der Frauen nicht.
Welcher Idiot würde sich auf einem Fest so sehr verstellen, so sehr verkleiden? Kurz halte ich die Luft an, dann nehme ich all meinen Mut zusammen und antworte.
„An Ihrer Stelle würde ich eine Frau fragen, Scott", meine ich mit gesenkter Stimme und sehe dem Mann in die Augen, die Reaktion, welche in ihnen aufblitzt, ist für mich unergründlich.
„Oh, Sie haben mich durchschaut? Es ist wohl nicht allzu schwer, hm?", lacht er leise, woraufhin mein Herz noch schneller schlägt.
„Sie können nicht richtig laufen, die Tanzschritte haben Sie auch noch nicht drauf und man sieht eine blonde Strähne", wispere ich ihm zu.
„Und Sie?", fragt er, macht keine Anstalten, seine Haare wieder unter der Perücke zu verstecken. Verwirrt sehe ich ihn an.
„Was ist mit mir?"
„Können Sie richtig laufen und die Tanzschritte der Frauen?", meint er schmunzelnd.
„Wer weiß", murmele ich und sehe ihm in die Augen, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Wann hat man schon die Gelegenheit, Scott Hoying live zu erleben?
„Wie heißen Sie?", fragt er mit rauer Stimme.
„Mitch, und Sie?", antworte ich grinsend.
„Ist das wichtig?", weicht er aus.
„Eigentlich nicht, Scott", meine ich kopfschüttelnd.
„Kannst du?", fragt er, fast heiser.
„Ja", sage ich schlicht.
„Wieso?", kommt sofort die nächste Frage. Ich lache leise. Dieser Mann ist wahnsinnig. Er macht mich wahnsinnig.
„Ich bin Model", antworte ich wieder.
„Du bist so schon schön. Ich kann es nicht erwarten, dein ganzes Gesicht zu sehen", murmelt er.
„Gleichfalls", meine ich, noch leiser als er, und betrachte seine Lippen.
„Wieso bist du so?"
„Ich habe nicht angefangen, wenn ich dich daran erinnern darf, Scott", sage ich schulterzuckend.
„Komm mit mir", flüstert er, nimmt mich an der Hand und zieht mich aus dem Saal, die Gänge entlang, bis er eine Tür aufstößt und wir im Freien stehen.
„Es ist wunderschön hier", wispere ich, als wir an einem erleuchteten Brunnen ankommen.
„Das ist nicht wichtig. Du bist wichtig", murmelt der Sänger, welcher nur Augen für mich hat.
„Scott, das funktioniert nie im Leben", zweifele ich, als sich sein Gesicht dem meinen nähert.
„Du musst nur daran glauben, Kleiner", wispert er an meinen Lippen, bevor er die winzige Lücke zwischen uns schließt.
Und die Turmuhr Mitternacht schlägt.