Ich hatte die kompletten letzten sechs Tage nur geweint. Seitdem ich aufgewacht war, tat ich kaum etwas anderes. Meine Augen waren so geschwollen, dass ich kaum noch etwas sehen konnte. Ich hoffte jeden Moment, dass alles doch nur ein schrecklicher Albtraum war und ich noch aufwachen würde. Doch langsam schwand auch diese Hoffnung immer mehr.
Um neun Uhr vierzehn starrte ich immer noch auf den Fernseher. Die Nachrichten liefen noch, doch ich hörte schon längst nicht mehr, was die Nachrichtensprecherin da sagte. Ich war in meinen Gedanken gefangen und konnte mich nicht rühren. Ich weinte wieder so jämmerlich und schrie. Die Schwester von heute Morgen stürmte herein und riss die Augen auf, als sie sah, dass ich am ganzen Körper heftig zitterte. Sie nahm mir die Fernbedienung ab und schaltete den Fernseher aus. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen.
„Ganz ruhig, Gabby. Alles wird gut." sagte sie.
Und ich hasste es so abscheulich, wenn sie diesen Satz sagte, denn für mich wurde nichts gut, nie wieder und das wollte sie anscheinend nicht kapieren. Die meisten hatten einfach kein bisschen Einfühlungsvermögen. Sie hatten keine Ahnung und versuchten durch irgend ein sinnloses Gelaber ich Gewissen rein zu waschen. Sie glaubten wirklich, dass sie mich trösten konnten. Sie spritzte mir wieder das Beruhigungsmittel, das ich seit ich aufgewacht war fast täglich bekam. Danach hörte ich auf zu zittern.
Am Nachmittag kam meine Oma vorbei und ich strahlte, als ich sie durch die Tür hereinkommen sah. Ich war seit heute wieder von der Intensivstation runter, nun konnte sie mich besuchen wann sie wollte. Nicht ganz, aber fast.
„Hallo mein Schatz." rief sie und umarmte mich.
„Hallo Oma-Herz." rief ich und schloss sie in meine Arme.
„Wie geht es dir?"
„Solang du hier bist gut." lächelte ich. „Naja ansonsten weißt du ja... Ich fühle mich noch genau so wie vor sechs Tagen und ich habe das Gefühl, dass es immer schlimmer wird. Noch dazu werde ich jeden Tag mit Medikamenten vollgestopft und vollgespritzt. Das zerrt noch mehr an meinen Nerven und macht mich ganz durcheinander und müde."
„Gabby," sie zögerte ein wenig. „Meinst du, dass du das morgen wirklich schaffst? Ich meine du bist gerade mal ein paar Tage wieder wach und ich habe Angst, dass du wieder ins Koma fällst. Das würde ich nicht verkraften, ich kann dich nicht auch noch verlieren. Die Ärzte sagen, es sei ein hohes Risiko. Du darfst das Krankennhaus auch nur verlassen, weil sie wissen wie wichtig dir das morgen ist und weil das ein Ausnahmefall ist. Deine Nerven werden am Ende sein und du weißt, dass du das nicht tun musst."
„Aber Oma, wenn das Risiko wirklich zu hoch wäre würden die Ärzte mich nicht für diesen einen Tag entlassen. Ich schaffe das schon irgendwie. Mach dir nicht so viele Sorgen um mich bitte. Okay?" versuchte ich sie zu beruhigen. Doch ich glaubte meinen Worten selbst nicht so ganz. Mir war eigentlich klar, dass ich das nicht schaffen würde, aber ich wollte es trotzdem tun. Ich bemühte mich, nicht schon wieder anzufangen zu weinen.
„Okay wenn du das meinst, mein Kleines. Dein Kleid habe ich gestern aus der Wäscherei geholt und mit dem Pastor ist alles abgesprochen. Das Restaurant für die Trauerfeier ist reserviert. Alle aus der Familie und wichtige Bekannte sind eingeladen. Es ist also alles vorbereitet."
„Ich bin stolz auf dich!" Ich drückte ihr ein Küsschen auf die Wange.
„Ich bin auch stolz auf dich!" lächelte sie mir zu.
Wir redeten noch fast eine Stunde und dann war die Besuchszeit auch schon wieder vorbei. Sie umarmte mich noch einmal und ging dann hinaus.
Der Nachmittag ging kaum rum und ich zerbrach mir den Kopf über den folgenden Tag. Morgen war die Beerdigung meiner Eltern und ich fragte mich, wie ich den Tag wohl überstehen sollte. Aber gleichzeitig war es mir auch unendlich wichtig, hinzugehen. Ich wollte mich von meinen Eltern verabschieden, denn die Gelegenheit hatte ich nicht gehabt. Ich musste im Rollstuhl zur Beerdigung, da mein Bein noch immer eingegipst war und ich nicht in der Lage war zu laufen. Mein Bauch und mein Rücken waren noch eingebunden und mit Pflastern überklebt. Der Verband um mein Handgelenk war auch noch nicht ab und ein Schlauch mit Sauerstoff führte in meine Nase. Doch trotz all dem war ich felsenfest entschlossen zur Beerdigung zu gehen. Das war ich meinen Eltern schuldig.
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Wie ein Engel
Teen FictionGabby ist 14 als sie ihre Eltern bei einem Autounfall verliert. Sie selbst wacht nach einer Woche im Koma im Krankenhaus auf. Nach wenigen Wochen verliert sie jedoch auch noch ihre Oma, die aufgrund eines Schwächeanfalls ins Altersheim muss. Völlig...