Die letzten zwei Tage verbrachte ich mit Packen und unzähligen Abschlussuntersuchungen. Auch den schattigen Platz unter der Buche besuchte ich noch einmal.
Und dann war der Tag gekommen. Als ich um vier Uhr durch den Traum aufwachte, konnte ich nicht mehr einschlafen. Da ich wusste, dass es zwecklos war es zu versuchen, ging ich ins Bad um die letzten Sachen in meinen Kulturbeutel zu packen. Als ich gerade mein Deo darin verstaute, hörte ich plötzlich wieder die Stimmen. Erschrocken zuckte ich zusammen. In den letzten zwei Tagen hatte ich davor Ruhe gehabt, deshalb kam es mir nun umso schlimmer vor. Diesmal sprachen sie keine Worte zu mir, sondern nuschelten nur verzerrte Laute. Schreckliche und schmerzhafte Laute. Ich stützte mich an der Wand ab und sank auf den heruntergeklappten Klodeckel. Mir kam die Idee zu duschen. Warum wusste ich nicht genau. Vielleicht hoffte ich, das Nuscheln somit loszuwerden. Also zog ich mich langsam aus und drehte das Wasser auf. Das kühle Nass verschaffte mir Sicherheit, dass ich überhaupt wach war und das alles nicht nur träumte. Die Hoffnung, dass alles nur ein Traum sei, hatte ich sowieso längst aufgegeben. Die Stimmen wurden nicht leiser, sie übertönten sogar das prasselnde Wasser. Aber nun verwandelte sich das Nuscheln in Worte. Ich kam mir immer verrückter vor, als sie mir auf einmal sagten ich müsse mich wieder spüren. Doch sie hatten Recht! Ich musste wieder spüren, dass ich überhaupt noch lebte -nein, leben war das falsche Wort- existierte. Mein Blick sank herab und fiel auf das Duschzeug, neben dem mein Rasierer lag.
„Na los. Tu es!" hörte ich die Stimmen schreien. Wie ein gesteuerter Roboter bückte ich mich und knipste die Klinge vom Rest des Rasierers ab. Ein unglaublicher Adrenalinstoß überflutete mich und mein Herz begann schneller zu schlagen als ich am linken Arm ansetzte. Ich zog durch und atmete tief ein als ich das Blut fließen sah. In dem Moment spürte ich zum ersten Mal seit dem Unfall so etwas wie Befreiung. Es war unglaublich und ich schnitt nochmal. Und nochmal und nochmal. Unter dem Wasser brannte es wie Hölle, aber das machte den Schmerz beinahe perfekt. Je mehr Schmerz ich spürte desto lebendiger fühlte ich mich. Es war schon die Tatsache, dass ich überhaupt noch etwas spüren konnte, die mich beruhigte und auf irgendeine eigenartige Weise auch glücklich machte. Es wurden mehr als dreißig Schnitte. Ich wollte nicht mehr aufhören. Es tat so gut trotz diesem brennenden Schmerz. Die rote Farbe des Bluts vermischte sich mit dem Wasser und verschwand im Abfluss. Wie hypnotisiert starrte ich dem Blut hinterher. Nach einigen Minuten musste ich das Wasser abstellen weil mir schon schwarz vor Augen wurde und ich nicht riskieren konnte bewusstlos zu werden und in dieser Situation gefunden zu werden. Das Blut tropfte immer noch von meiner Hand. Ich lächelte. Aber gleichzeitig kamen mir auch die Tränen. Ich war zufrieden und schon fast ein wenig glücklich.
Langsam stieg ich aus der Dusche, doch der Boden war so glatt, dass ich ausrutschte und mit dem Arm auf die Duschkante knallte. Ich war so vor Schmerz geschockt, dass ich erst nach ein paar Sekunden realisierte, dass ich in diesem Moment wahrscheinlich das gesamte Krankenhaus wach schrie. Verdammte Scheiße, war das ein Schmerz. Ich zwang mich, leise zu werden weil ich die Schwestern nicht auf mich aufmerksam machen durfte wenn es nicht schon zu spät war. Das fehlte mir gerade noch, dass sie mich mit aufgeschlitztem Arm am Boden liegen sahen. Ich beobachtete, wie einige der Schnitte noch weiter aufrissen und das Blut an die Wände der Dusche spritzte. Dann war ich erstmal weg.
Ich weiß nicht wie lange, aber als ich zu Bewusstsein kam, befand sich neben mir eine ungeheuer große Blutlache. Ich wäre am liebsten einfach liegen geblieben und verblutet. Doch dann nahm ich mich zusammen und robbte zur Toilette um Klopapier abzureißen. Mir war schwindelig und mein Kopf stand kurz vor einer Explosion. Ich drohte, erneut in Ohnmacht zufallen. Mit allerletzter Kraft drückte ich mehrere Lagen auf meinen Arm und presste die Zähne aufeinander um nicht wieder zu schreien.
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Wie ein Engel
Teen FictionGabby ist 14 als sie ihre Eltern bei einem Autounfall verliert. Sie selbst wacht nach einer Woche im Koma im Krankenhaus auf. Nach wenigen Wochen verliert sie jedoch auch noch ihre Oma, die aufgrund eines Schwächeanfalls ins Altersheim muss. Völlig...