chapter 16

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Ich begann also Briefe zu schreiben.

06.09. – 13:45

Mein lieber Jayden,

meine Psychologin hat mit geraten dir Briefe zu schreiben, damit ich mit den Gefühlen für dich und der ganzen Situation umgehen kann. Es fällt mir leichter, Gefühle zu verarbeiten indem ich sie aufschreibe. Es ist zu viel passiert in den letzten Monaten und Wochen, dass ich gar nicht alles ordnen kann. Der Unfall mit meinen Eltern und ihr Tod hat mein ganzes Leben durcheinander geworfen. Ich bin völlig aus der Bahn geraten, habe begonnen mich komplett zu isolieren und alles um mich herum war egal. Mein Leben verlor den Sinn, ich hatte niemanden mehr, dem ich noch etwas bedeutete und dann fingen die Gedanken an. Wofür noch leben? Für wen? Warum soll ich noch kämpfen? Wieso soll ich mich in einem Kinderheim rumquälen wenn ich es im Himmel wahrscheinlich viel schöner hätte? Dann begann die Selbstverletzung. Ich spürte nichts mehr weil ich meine Gefühle abgestellt hatte um mich so vor allem und mir selber zu schützen. Alles verblasste zu grau, meine Welt wurde kalt und trostlos. Aber dieses nichts fühlen war beinahe genauso schlimm wie der ganze Schmerz. Ich fürchtete mich vor mir selbst, weil ich mich so tot fühlte und nicht glauben konnte, dass ich überhaupt noch existierte. Ich begann mich sogar zu fragen, ob ich vielleicht in einer Art Zwischenwelt gefangen war oder ob meine Seele ebenfalls mit in den Himmel gestiegen war und nur noch mein Körper auf der schrecklichen Welt herumgeisterte. Doch dann fand ich eine Möglichkeit, mir selbst zu beweisen, dass ich noch lebte. Noch fühlen konnte und das alles real war. Die Klinge ermöglichte mir es, mich selbst zu spüren, all die seelischen Qualen in körperliche umzuwandeln und so erträglicher zu machen. Und so fand ich etwas, an das ich mich klammerte weil es das einzige war, was ich noch hatte. Ich schreibe dir das nicht auf, weil ich dich damit quälen will. Ich will nur, dass du verstehen kannst.

Als ich dann erfuhr, dass ich ins Kinderheim musste, verlor ich Glaube, Hoffnung und alles andere endgültig. Doch mittlerweile glaube ich wieder. Ich glaube, dass das alles vielleicht passieren musste, dass es einen Grund hatte so wie es gekommen ist. Denn auch wenn meine Zeit dort anfangs noch härter war als das Krankenhaus, ich habe dich dort kennengelernt. Du hast meine Welt dann erneut umgekrempelt und zwar komplett. Meine zerbrochene Welt, in der ich lebte, wurde plötzlich wieder warm und leuchtend. Es gab wieder einen Grund, einen Sinn. Das, was du mir in diesen Wochen geschenkt hast, hat mir mehr bedeutet als ausgesprochenes Beileid von anderen Menschen es jemals könnte. Du hast mir neue Kraft gegeben und mir gezeigt, dass ich nicht aufgeben darf. Endlich wusste ich, dass ich noch fühlen kann. Und zwar nicht nur Schmerz oder Traurigkeit, sondern Liebe. Ich bin wieder völlig aufgegangen, der Riss in meinem Herz wurde kleiner. Zeit mit dir zu verbringen war das schönste für mich, bei dir habe ich mich endlich wieder gebraucht gefühlt und ich kann gar nicht in Worte fassen, wie gut sich diese Liebe zwischen uns anfühlte. Und Gott, alles was ich dir angetan habe tut mir so leid. Alles was du mitmachen musstest. Damals auf dem Dach, mein ständiges Geweine, meine Panikattacken und all die Narben. Ich kann mir nicht vorstellen wie weh ich dir damit getan haben muss. Ich habe so egoistisch gehandelt. Und dafür gibt es keine Rechtfertigung, ich weiß. Aber ich war so verzweifelt. Damit soll Schluss sein. Ich will dir das nicht mehr antun. Ich habe neuen Mut bekommen, gegen all die Schrecklichkeit anzukämpfen, um es mir und dir einfacher zu machen. Doch dann wurdest du mir weggenommen. Nach den paar Wochen, die wir zusammen hatten, wurdest du mir auch noch genommen und plötzlich ist alles wieder in sich zusammengestürzt. Deine Art, dein Lächeln, deine Augen, all das, was mich so glücklich gemacht hatte, war auf einmal weg. Und die Wärme, die ich doch so brauchte und liebte, wurde mir entrissen. Mein Herz tut so weh wie vorher. Ich habe meine Eltern und alles andere verloren, dann finde ich jemanden, der mich liebt und braucht und dann wird mir auch dieser Mensch noch weggenommen. Ich versank in tiefem Selbstmitleid und rutschte noch tiefer in meine Depressionen, weil ich einfach nicht verstehen konnte, wie unfair das Leben zu mir ist. Doch ich habe erkannt, dass es mir nichts bringt mich selbst zu bemitleiden. Ich muss um dich kämpfen und das tue ich mit all meiner Kraft, die mir noch übrig geblieben ist. Aber es ist so unerträglich ohne dich. Morgens wenn ich aufstehe habe ich keinen Grund mehr zu lächeln, ich habe niemanden mehr der auf mich wartet oder mich mit einem Küsschen weckt. Es tut einfach so weh. Mittlerweile glaube ich, dass ich mit dir auch mich selbst verloren habe. Am meisten an unserer Trennung quält mich die Ungewissheit und du weißt, wovon ich spreche... Nicht zu wissen, wie es dir geht, was du machst und ob du überhaupt noch so für mich empfindest, macht mich wahnsinnig. Und doch habe ich die Hoffnung, dass wir nicht für immer getrennt sein werden. Ich glaube daran, dass wir uns wiedersehen werden und alles wieder gut wird. Dass wir wieder zusammen Zeit verbringen können und machen können, was wir wollen, dass alles gut wird. Denn schlimmer kann es nicht mehr kommen und irgendwann geht es aus dem Tunnel auch wieder hinaus, stimmt's? Ich sehe ganz weit entfernt ein Licht, so wie man das immer sagt, und ich werde nie aufhören an dich und uns zu glauben.

Wie ein EngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt