Nachdem ich ihm ausführlich von dem vergangenen Nachmittag und meinem Befinden berichtet hatte und währenddessen mein Abendessen hinuntergewürgt hatte, wünschte er mir eine gute Nacht und verließ mein Zimmer. Mir war immer noch schlecht und ich war immer noch geschockt von Eminas Geschichte. Das Ganze hatte mich so überrumpelt, dass ich für einen kurzen Moment geglaubt hatte, dass ich mich in einem Traum befand. Aber da mich diese Überlegung in den letzten Wochen, vor allem in den Tagen nach meinem Koma, täglich beschäftigte, glaubte ich mittlerweile nicht mehr dran. Gott, was ich alles dafür getan hätte, dass es wirklich nur ein Traum war. Aber das war es nicht. Ich merkte, dass meine Gedanken wieder zu viel wurden und holte das Notizbuch aus meinem Nachttischschrank.
Donnerstag, 03. Juli
Heute ist viel passiert. Ich habe zum letzten Mal mein altes Haus betreten. Es war ein komisches Gefühl. Es fühlte sich nicht an wie mein zu Hause. Der vertraute Geruch von Mamas frisch gekochtem Essen oder Papas Parfum waren nicht mehr da. Trotz der vertrauten Möbel und der unberührten Einrichtung meines alten zu Hause fühlte ich mich fremd. Jetzt war es ja ohnehin nicht mehr mein zu Hause, nein, bald würde es das Kinderheim sein. Ich habe Angst, schreckliche Angst. Ich will das alles gar nicht. Anfangs habe ich mir noch gewünscht, alles sei nur ein Traum und die Illusion wäre perfekt. Aber langsam höre ich auf, daran zu zweifeln, dass das alles wirklich geschehen ist. Ich denke immer öfter daran, wie es wär, wenn ich träumen könnte - für immer. Ein wunderschöner Gedanke ist das, dann wäre der ganze Schmerz und dieses unertragbare Gefühl der Leere endlich weg. Ich könnte es einfach hinter mir lassen. Wer würde mich denn vermissen? Es gab ja nur noch meine Oma und der würden sie einfach sagen, dass ich im Kinderheim wär und keine Ausgänge oder Besuche erlaubt wären. In ein paar Jahren würde sie eh sterben. Sie würde gar nichts von meinem Tod mitbekommen. Meine Tanten und Cousinen aus Amerika würden das Gleiche gesagt bekommen, wenn sie überhaupt noch an mich denken würden. Und sonst gab es ja niemanden mehr. Ich werde...
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag mein Tagebuch aufgeklappt auf meinem Bauch. Der Stift war auf den Boden gefallen. Meine Haare hingen mir zerzaust vor dem Gesicht herum. Ich kniff die Augen zusammen und strich die Strähnen hinter die Ohren. Langsam setzte ich mich auf. Ich musste gestern Abend so erschöpft gewesen sein, dass ich beim Schreiben eingeschlafen war. Der Schlaf hatte nichts daran geändert. Ich war immer noch total kaputt. Die Strapazen des gestrigen Tages ließen mich immer noch schwach fühlen.
Beim Frühstück fasste ich trotz meines Befindens den Entschluss, Jolina ausfindig zu machen. Daraufhin ließ ich den Rest des Frühstücks auf dem Tablett stehen und rollte ein paar Minuten später zum Schwesternzimmer um meinem Plan Erlaubnis geben zu lassen. Natürlich erwähnte ich nichts von meiner magersüchtigen Freundin, sondern gab vor, mich ein bisschen auf die Bank vor dem Krankenhauseingang zu setzen um frische Luft zu schnappen. Die momentan zuständige Schwester nickte nur gähnend mit dem Kopf. Sie war wahrscheinlich so müde, dass sie meine Worte nicht richtig mitbekam und sie ihr auch egal waren, da sie sich noch im Halbschlaf befand. Ich fuhr zum Fahrstuhl und drückte den Knopf, der ihn hochschickte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich die grauen Türen zur Seite schoben. Der Fahrstuhl war leer, doch als ich auf die Tafel der Stockwerke sah fiel mir ein, dass ich gar nicht wusste, wo ich überhaupt nach Jolina fragen, geschweige denn suchen sollte. Dann drückte ich „EG" und beschloss, dort anzufangen, wo ich sie als letztes gesehen hatte. Und das war draußen im Park. Somit hatte ich der Krankenschwester gar nicht mal etwas ganz falsches erzählt. Die Türen des Fahrstuhls schlossen sich und er fuhr nach unten.
Als ich mich durch die Eingangstür nach draußen schob, waren nicht viele Leute zu sehen. Kein Wunder, es war erst später Morgen. Außer ein paar Pflegern, die eine rauchten, war nur ein älterer Herr und eine Familie zu sehen. Ich drehte also um. Als nächstes wollte ich mir die Cafeteria vornehmen, wo sich um diese Uhrzeit deutlich mehr Patienten und Besucher aufhielten als draußen. Ich fuhr hinein und musterte jeden einzelnen Tisch. Ich fuhr zwei Mal alles ab, Jolina wäre mir aufgefallen, da war ich mir sicher. Hier war sie also auch nicht. Geknickt verließ ich die Mensa und blieb in der Eingangshalle stehen. Dann musste ich also fragen. Aber wie denn, wenn ich nicht mal ihren Nachnamen wusste? So viele Jolinas konnte es hier im Krankenhaus nicht geben, zumal es auch kein Kinderkrankenhaus war und nicht allzu viele Erwachsene Jolina hießen, sagte ich mir optimistisch. So rollte ich also zur Rezeption. Eine etwas dickere junge Dame saß hinter der Glasscheibe und blickte auf, als ich näher kam.
DU LIEST GERADE
Wie ein Engel
Teen FictionGabby ist 14 als sie ihre Eltern bei einem Autounfall verliert. Sie selbst wacht nach einer Woche im Koma im Krankenhaus auf. Nach wenigen Wochen verliert sie jedoch auch noch ihre Oma, die aufgrund eines Schwächeanfalls ins Altersheim muss. Völlig...