⏳XIII - Levia⏳

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Die Zeit stand still für diesen Moment.
Der Raum schrumpfte zusammen und weitete sich zugleich, während die Umgebung abrupt verstummte und ihr eigener keuchender Atem zu einem Donner in der Stille wurde.
Ihre Finger zitterten im Nieselregen, die feinen Tropfen schossen auf ihre Haut zu und prallten davon ab wie von einer Rüstung. Jeder Treffer trieb ihr einen stechenden Schmerz in den Kopf.

Die Kopfschmerzen hatten andere Ursachen, das war ihr klar- die Deaktivierung des iPersonals löste gewisse Hormone aus, die durch den plötzlichen Druck regelrecht in ihr Blut gepumpt wurden. Aber der Scurio lag da, verkrümmt, reduziert auf das, was er war- eine Maschine. Ein Gegenstand.

Die Sicherheit dieser Welt lag in Händen, die keine Hände waren, sondern nur von Kunststoff überzogene Metalllegierungen und Drahtverbindungen, deren Sprache aus zwei Zeichen bestand.

Die Situation drohte sie zu überwältigen, obwohl sie doch gerade erst aus ihr gerettet worden war. Die Welt drängte sich um sie zusammen.
Levia wich verkrampft zurück, presste sich gegen die nächste Hauswand, während das Herz in ihrer Brust jagte, als kämpfte es gegen den Käfig aus Rippen an.
Du musst dich jetzt beruhigen, Levia, und ganz schnell hier weg.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Radaren den zusammengebrochenen Scurio orten würden... sie hatte sich ein Zeitfenster geschaffen, doch ein bemerkenswert kleines und unsicheres.
Ihr Körper beruhigte sich langsam wieder, doch ihr Kopf arbeitete versessen. Sie könnte über die große Hauptstraße queren, das würde ihr weitere wertvolle Minuten verschaffen, und-
Und dann?, fauchte die Stimme in ihr. Willst du dein Leben lang durch die Holy City sprinten?
Egal- sie musste sofort hier weg...
Dann geh doch, stichelte die Stimme boshaft. Geh, und sieh zu, wie du inmitten von zig Millionen Menschen unsichtbar bleibst.
Sie nahm einen tiefen Atemzug, kostete die von Angst getränkte Luft.

Die anderen würden von hinten kommen. Die Scurios waren außer Gefecht, insofern sie nahe genug gewesen waren, aber wenn sie sich an Aidans sehnigen Körper zurückerinnerte... ihr Kopf überschlug die Zahlen kurz. Er würde sie in den nächsten Minuten einholen, zweifellos, egal, wie sehr sie sich selbst antrieb.
Sie hatte auf der Akademie, die sie besucht hatte, an allem an ihr arbeiten müssen, nicht zuletzt auch an den körperlichen Fähigkeiten. Läufe fanden dort im Grunde immer statt, mal als Unterrichtseinheiten, mal auf persönliche Anordnung, mal als Wettkämpfe, im Verlaufe deren Punkte gesammelt werden konnten. Letztere hatte Levia selten in Anspruch genommen, aber einer der Doktoren hatte sie regelmäßig zur Teilnahme an Geländeläufen verdonnert, in der Regel zweimal pro Woche. Zusätzlich noch die Pflichtrunden, an die acht Kilometer montags und samstags, zwölf an jedem Mittwoch.
Ein Journalist muss laufen können, wisperte die Stimme in ihr einen der Grundsätze der Ausbildung. Er ist das Auge der Welt.
Er muss reden können.
Er muss kombinieren können.
Er muss lügen können.
Er muss überzeugen können.
Er muss in Menschen lesen können.
Er muss rebellieren können.
Die Sätze setzten sich scheinbar ewig fort, doch ein jeder hing in den Köpfen der Absolventen fest. Im Grunde musste ein Journalist alles können.
Das Auge der Welt.
Das Auge der Welt hatte die Bluthalle erblickt, und es stand kurz davor, von metallenen Fingern durchbohrt zu werden.

Wann immer sie sich später an diesen Moment zurückerinnerte, sah Levia ihn als den, in dem sich ihre Situation erst gänzlich über sie gesenkt hatte.
Sie war das Auge der Welt gewesen, und die Welt hatte etwas gesehen. Die Welt war nicht dazu da, um zu sehen. Sie sollte ihr Augenlicht verhüllen, ihr Haupt senken und die Gliedmaßen so eng wie irgend möglich um ihren Leib winden, denn wer sie weckte, weckte ein Monster. Ein Wesen mit Fängen aus Granit und Stimmen, die gewaltiger waren als jeder Sturm.
Noch räkelte sich die Welt wie im Schlaf, ihre Lippen öffneten sich erst den leichten Atemstößen, doch schon verdunkelten sich die ersten Bilder ihres Traums, schon neigte sich die letzte Geschichte dem Ende zu. Die Töne schwangen aus, das Monster erzitterte, und dann- dann würde es seine bernsteinfarben Lider öffnen und beginnen, zu sehen.

MorpheusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt