⏳XVI - Levia⏳

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Die junge Frau fuhr auf dem Absatz herum und starrte sie an.
"Was machst du hier?", stöhnte sie auf.
Levia atmete tief durch. Sie kannte ihn, das war... gut...
"Hab was gesucht." Er stieß Levia von sich, sie fing sich unsicher aus ihrem Sturz und wich zwei Schritte zurück.
"Aber man findet nicht viel, wenn man alle zwei Schritte von jemandem aufgestöbert wird. Was soll's. Flüster hat jetzt Monate darauf gewartet, auf einen Tag mehr oder weniger wird es ihm nicht ankommen."

Es war ein junger Mann, der gesprochen hatte. Unwillkürlich unterzog sie ihn einer schnellen Musterung nach dem Schema, das sie in der Akademie immer hatte anwenden müssen: Hände- groß, die linke in einem schwarzen Lederhandschuh, die andere vernarbt, beide leer. Hüften- ein breiter Gürtel über abgewetztem, grauen Stoff, daran zwei kleine Messer, eine Pistole, ein kurzer Stab, der wie ein altertümlicher Taser aussah, und eine undefinierbare Hülse mit verrosteter Beschriftung, vielleicht eine Rauch- oder Lichtgranate. Füße- schwere Springerstiefel, ruhig, sicherer Stand. Schultern- ungewöhnlich schmal für einen Mann, dennoch zeichneten sich unter der dunklen Jacke Muskeln an den Armen ab. Hals- halb verdeckt von dem Kragen, keine Ketten, angespannt, aber nicht zu verbissen. Und das Gesicht.
Die etwas längeren, welligen braunen Haare waren nachlässig an seinem Hinterkopf zusammengefasst, sodass sie es frei betrachten konnte. Er schien sich hastig etwas in das Gesicht geschmiert zu haben, ein Großteil wurde von einer Schicht aus Asche und Ruß überdeckt.

Seine Augen waren grau.
Nicht von einem eintönigen Schieferton wie trockener Asphalt, sondern überwältigend vielfältig, mit einem schwarzen Ring ganz außen und verschiedenen keilförmigen Abstufungen, die sich zur Pupille hin immer mehr aufhellten.
Levia registrierte die leicht verkniffenen Lippen, eine schmale Reihe von Erhebungen an der linken Schläfe unter der Schmutzschicht- Muttermale?- und die unnatürlich perfekte Nase.
Seine Ausstrahlung verwirrte sie, sie war seltsam einnehmend, was sich dennoch mit seinem Gesichtsausdruck biss.
Zwei Sekunden höchstens, doch ihr Gegenüber bleckte bereits wölfisch die Zähne. "Fertig?"
Sie errötete nicht. Diese Nacht hatte zu viel gefordert, um sich jetzt vor jemandem schämen zu können.

"Es ist eine Heilige", stellte er mit Überraschung in der Stimme fest und sah zu der Frau hin. "Nicht wahr?"
"Ich habe erst einmal welche von denen über die goldene Wand kommen sehen, aber... ja. Sie ist über den Wall geklettert. Ich weiß, dass sie nicht gerade danach aussieht", versetzte diese trocken und sicherte die Pistole. "Soll ich sie... weiterschicken?"
Der Ton hätte auch jemand Ungeübterem verständlich gemacht, wovon sie sprach. Levias Nacken verspannte sich.
Der Mann krauste die Nase. "Und dann wieder Tax aufdrängen? Nein", gab er nach kurzer Denkpause zurück. "Ich bringe sie zu Flüster."

"Zu Flüster." Die Stimme der Frau kühlte merklich ab. "Das heißt, ich muss sie diese ewig lange Straße runterschleppen?"
Er lächelte breit, ein einnehmender, aber durchtriebener Gesichtsausdruck. Levia schwankte noch zwischen drei verschiedenen Verhaltensmustern, um ihn einem Typus zuzuordnen.
Die Frau schnaubte genervt. "Gut, dann bringe ich sie hin. Aber ich brauche ein neues Paar Handschuhe, das alte hast du ruiniert."
Er nickte ihr gönnerhaft zu. "Ich bringe dir was mit." Sein Blick tastete sich einmal quer über Levias Körper. "Und Himmel, besorg ihr etwas zum Anziehen. So kann sie hier nicht herumlaufen."
Dann wandte er sich ab, trat durch die ausgetretene Magazinstür der zerstörten Boutique und wurde von der Dunkelheit verschluckt.

Sie ertappte sich dabei, wie sie ihm sprachlos hinterherstarrte. Es verwirrte sie völlig, wie gefasst er war. Sie hatte sich die Obdachlosen in den Ghettos immer so viel desorientierter vorgestellt.
Die Frau stieß einen kurzen, schrillen Pfiff aus. "Komm jetzt. Wir bringen dich zu dem Mann, der dir hoffentlich zeigen wird, wo du hingehörst."
Levia wandte sich langsam um und ging stockend auf sie zu.
"Wer war das?"
Die Frau winkte sie energisch an ihre Seite und stieg dann über die Glassplitter wieder ins Freie. "Jemand Wichtiges."
Levia musterte sie eindringlich. "Du magst ihn nicht."
"Ich hasse ihn", gab die Frau gleichmütig zurück und zog einen länglichen Metallstift aus ihrer abgetragenen ledernen Jacke. Sie suchte sich ein Fleckchen unbeschädigte Mauer an der Außenwand des ehemaligen Geschäfts und klemmte die Zungenspitze zwischen die Lippen. Mit sicheren Strichen zog sie ein kleines Quadrat mit der leicht violett schimmernden Farbe und halbierte es dann quer.
Levia trat neugierig etwas näher. Die obere Hälfte unterteilte die Frau ausgehend vom Mittelpunkt des Quadrates in sieben Segmente, die eine Art Strahlenkranz bildeten.

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