⏳XXII - Levia⏳

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"Nun, sie ist immerhin Journalistin." Raoul, der groß gewachsene Südländer- Erster des zweiten Hauses, wie sie sich erinnerte- hob seine Schultern und ließ sie wieder fallen. Seine schwarzen Augen hielten Flüsters gelblichen unbekümmert stand.
"Sie muss sich in ihrer Welt besser zurechtfinden als andere. Sie könnte nützlich sein."
"Oder wir schneiden ihr die Kehle auf und holen uns das, was die Heiligen in ihrem Körper versteckt haben", fiel ihm Ruben grob ins Wort. "Elektrizität. Chips. Technologien." Er zog eine seiner schmalen Augenbrauen hoch. "Sie könnte eine Trägerin sein. Warum sollten sie uns nicht mit Biowaffen beizukommen versuchen?"
Levia lag eine Erwiderung auf der Zunge- wenn der Heiligen Stadt etwas daran gelegen wäre, ein paar Millionen Menschen in den Tod zu schicken, hätte sie genauso gut eine Bombe hochgehen lassen und daraufhin das entstandene Neuland nutzen können- aber etwas ließ sie innehalten. Die Versuchung, das Thema für sich selbst durchzudenken, bevor sie damit auf Konfrontation gehen konnte.

"Vielleicht bin ich das", gab sie stattdessen trocken zurück. Ihre plötzliche Wortmeldung ließ den Mann mit dem Rattengesicht, Mart, die Stirn runzeln. Laurent, der Grauäugige, sah sich nach ihr um. Levia zog den kurzen Moment der Stille in die Länge. Kalkulation- wie lange kann man schweigen, ohne unterbrochen zu werden. Eine weitere Lektion. Sie fiel wieder ein, bevor Dagger und Raoul, die beide zum Sprechen angesetzt hatten, ein Wort hervorbringen konnten.
"Aber selbst wenn, dann hätte ich inzwischen den Erreger in einige Teile der Ghettos gebracht. Ihr alle wärt infiziert. Würdet ihr mich töten, dann läge euer Fokus wohl darauf, mich schnellstmöglich aus dem Weg zu räumen. Das wird ohne Blut kaum vonstattengehen… und im Blut befindet sich bekanntlicherweise die höchste Erregerkonzentration. Selbst wenn ihr nicht infiziert wärt, würde dem damit Abhilfe geschafft werden." Levia lächelte leicht.
"Niemand bracht Blut, um zu töten." Ein Spiegel ihres Gesichtsausdruckes hatte sich über Rubens kalte, blaue Augen gelegt. Seine schmalen Lippen formten ein liebenswürdiges Lächeln, das Levias Rücken unter einem Schauer aufrauen ließ. Sie waren also weiter fortgeschritten, als sie gedacht hätte.
Ohne Blut. Mit Strom, Giftgas, Magnetfeldern- welche der im Krieg üblichen Methoden hatten sie wieder aufgenommen, welche verfeinert?

Flüster musterte sie eingehend. "Demnach keine Trägerin. Reicht das als Argument, Ruben?"
"Nein." Der Angesprochene lehnte sich gegen die zerkratzte, hölzerne Rückenlehne. Raoul seufzte leise auf. "Bitte, Ruben."
"Ich sage, wir beenden ihr heiliges Leben." Seine Züge blieben unverändert.
"Es ist ihr Recht, sich zu verteidigen." Raoul wandte sich an sie. "Du darfst-"
"Nein." Flüsters Stimme war leise, kratzig, aber dennoch fügten sich ihr alle. "Sie ist eine Heilige. Alles an Rechten, das sie erhalten kann, muss ihr von den sieben Häusern verliehen werden."
Malbourne, die große dunkle Frau, klopfte einmal mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. Der schwere Silberring an ihrem Finger erzeugte ein dumpfes Pochen, das von den Wänden der Kathedrale reflektiert wurde. "Dann müssen wir eine Abstimmung durchführen, bevor wir weiterverhandeln."

Tanz erhob sich in einer katzenhaften Bewegung, die an Flüsters Leichtfüßigkeit erinnerte. Levia stellte sich unwillkürlich die Frage, ob sie noch weitere Geschwister hatten und wenn, ob diese die selben Attribute aufwiesen.
"Zur Entscheidung steht das Leben der Heiligen, die in der letzten Nacht die goldene Wand überquert hat. Im Falle der Mehrheit für ihr Leben wird über ihr weiteres Schicksal verhandelt, im gegenteiligen Fall über die Art ihres Todes. Welche Meinung vertritt das erste Haus?"
Alle Augen richteten sich auf ihren Bruder. Flüster lächelte leicht. Sein Blick krallte sich in Levias fest.
Ihre Lippen begannen leicht zu zittern. Von seiner Stimme mochte ihr Leben abhängen… die Mehrheit seiner Gefolgsleute würde sich nach ihm richten.
Und dann, langsam, erhob er seine rechte Hand und winkte kurz.
Angespannt fixierte sie seine Finger. In seinem Gesicht sagte nicht die geringste Regung etwas über das Urteil aus. Wofür stand das Zeichen?
"Er verschiebt seine Entscheidung", hauchte Reva, und eine beängstigende Art von kurzweiliger Erleichterung stieg in Levia auf. Das konnte ein gutes Zeichen sein. Ein sehr gutes.

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