Die junge Frau legte sachlich
den Kopf schief. "Welches Körperteil brauchst du jetzt am wenigsten? Mal sehen..."
Levia stand reglos da. Regentropfen benetzten ihr Haar, bahnten sich einen Weg über ihre Stirn, perlten über ihre Wangen bis zum Kinn, wo sie sich lösten, um den Boden zu küssen.
Die Frau lächelte sanft. "Deinen Mund scheinst du ja nicht zu benötigen. Hast du keine Zunge mehr?"
Die simple Selbstverständlichkeit, mit der sie die Frage stellte, weckte ein undefinierbares Grausen in Levia. Sie meint das ernst.Sie öffnete die Lippen, schloss sie wieder. Ihr Gegenüber zog abwartend die Augenbrauen hoch und ließ die Pistole einmal um ihren Finger rotieren.
Es war ein altes Modell. Levia erkannte die Gravur, eine Beretta, 7mm, wenn es sie nicht täuschte... ihr Geschichtekurs an der Akademie war bei der Klassifizierung verschiedenster Schusswaffen etwas nachlässig gewesen, aber es hatte Spezialisierungseinheiten gegeben. Damien hatte vor einem Interview einmal eine davon besucht.
Alt. Das war gut, vermutete sie zumindest."Also?"
Wenn sie recht überlegte, war sie mehr noch ein Mädchen als eine Frau. Obwohl sie sie um die zwanzig schätzte, war sie furchtbar zierlich und sehr klein und hatte so gut wie keinen sichtbaren Brustansatz. Doch die Kälte in ihren honigfarbenen Augen machte sie zu einer Bedrohung.
Die junge Frau murmelte etwas Leises. "Krüppel sind wertlos. Einen schönen Gruß an meine Eltern... sag ihnen, dass ich sie liebe, ja?" Selbstvergessen krümmte sich ihr Finger um den Abzug.Levia hechtete geistesgegenwärtig zur Seite. "Warte!", rief sie hastig. Eine Kugel bohrte sich mit einem ohrenbetäubenden Knall in einen Ziegelstapel neben ihren Beinen. Ihr Puls hob vom Boden ab.
"Oh, es spricht!", spöttelte die Frau und lächelte herablassend. Sie machte keine Anstalten, sie erneut anzugreifen, doch für Levia schien die Waffe in ihrer Hand zu leuchten. "Spricht es auch noch mehr?"
Levia gab die Gegenwehr auf. Die Tödlichkeit dieser Frau war viel zu offensichtlich, sie wusste, auch ohne die Beretta würde sie sie mit Leichtigkeit überwältigen könne. "Ich... komme aus der Heiligen Stadt. Ich arbeite dort." Die Frau wartete die kurze Stille ab, bevor sie genervt mit der Waffe durch die Luft wedelte. "Und weiter?"
"Ich bin harmlos. Journalistin."
Die Frau stockte kurz. "Ausbildung?", verlangte sie knapp.
Levia zögerte. "Ich habe eine Kinderbetreuungsstätte besucht, als ich klein war, und dann die Pflichtschule. Daran habe ich ein Vorstudium in Journalismus abgeschlossen, und als ich sechzehn wurde, habe ich an die Akademie gewechselt."
"Akademie?"
"Eine schulartige Institution, die-"
"Welche Akademie."
"Oh." Levia errötete. Das war dumm, dumm, dumm. Du darfst dem mit der Waffe nie das Gefühl geben, dass du ihn für dumm hälst. "Castleighwell & Gees."
"Hm." Die Frau schlich zwei weitere Schritte auf sie zu. "Warst du wichtig in der Hierarchie von denen da drüben?" Sie ruckte undeutlich mit dem Kopf in Richtung der Barriere.
"N-nicht sonderlich." Levia vertraute ihren Instinkten ihr Leben an. Es war riskant, das wusste sie, aber sie konnte nicht in diese Frau hineinsehen. Unkontrollierte Wirbel aus aufgewühlten Gefühlen drückten sie zurück, wieder und wieder."Und was ist mit deinen... deinen Augen?" Sie fuhr sich fahrig mit der freien Hand über das Gesicht. Die Skepsis sprach aus ihrer Stimme.
Levia lächelte vorsichtig. "Was soll mit ihnen sein?" Sie vertraute dem dunklen Bronzeton der Kontaktlinsen, vertraute ihm in diesem Moment mehr als dem, was sie erlernt hatte. Er machte sie zu etwas Besonderem, und was diese Frau mit ihr anstellen würde, wenn sie für sie nicht mehr als ein einfaches Mädchen von der falschen Seite des Flusses sein würde, konnte sie sich bereits ausmalen.
Ein verwirrter Schatten huschte über das Gesicht der Frau. "Ihre... Farbe ist sonderbar."
"Deine Augen sind golden, meine bronzefarben. Wo liegt da der Unterschied?"Sie beobachtete neugierig die widerspenstige Reaktion auf ihre Worte. "Meine sind schlammfarben", fauchte die andere und hob erneut ihre Waffe. Ihr fiel auf, dass sie Linkshänderin war. "Was machst du hier?"
Ein brüchiges Geräusch bahnte sich den Weg durch Levias Kehle. Sie hustete den Ton mehr aus, als dass sie ihn gesprochen hätte. In der feuchten Luft verwandelte er sich in ein irres Lachen.
Ja... was machte sie hier? Hinter den Mauern ihrer Welt, ein Niemand inzwischen, und das alles wegen ein paar Kästen mit Blut. Millionen Kisten Blut.
Sie krümmte sich um ihren verkrampften Bauch, der dem stetig hervorsprudelnden Gelächter fast nicht standhalten konnte. Lachte über ihre sinnlosen, unbegründeten Ängste, ihr kopfloses Verhalten, ihre endlose Dummheit. Oh, sie war dumm, so dumm...
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Morpheus
Science FictionLondon, 2102. Alle Welt schläft, seit Morpheus den iQaster auf den Markt gebracht hat: ein Gerät, in dem das Bewusstsein des Menschen gespeichert wird und es ihm ermöglicht, jahrelang zu überdauern. Die Entwicklung trifft auf eine Welle ungezähmter...