⏳XIX - Levia⏳

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Sie verließen die Kirche über eine schmale, mit Brettern vernagelte Tür und traten aus der schwarz gekleideten Masse zurück in den leisen Nieselregen. Levia bemerkte, wie energisch die Schritte der Frau geworden waren, fast schon trotzig. Wahrscheinlich wurde sie sonst selten dafür abgestellt, das Kindermädchen für eine andere von der falschen Seite der Barriere... wie nannten sie sie? Die goldene Wand?- zu spielen, und dieser neuerliche Umstand war ihrer Ansicht nach anscheinend nicht wirklich ihrer Begabung entsprechend.
"Du hättest mich trotzdem erschießen können", entfuhr es ihr. "Obwohl... er dagegen war."
Die Frau wirbelte herum. Ihre goldenen Augen sprühten Funken. "Dich gegen seinen Willen umbringen? Wie dumm bist du?"

Da war er wieder, dieser durchdringende, unterdrückte Hass in ihren Zügen...
"Was genau hat er dir angetan?" Levia warf ihr einen vorsichtigen Blick zu und erkannte erneut einen Anflug von Überraschung, der aber schnell unterdrückt wurde.
Die Frau grinste abfällig. "Etwas antun.... so könnte man das nennen, ja."
"Aber warum... warum rächst du dich nicht einfach an ihm?"
"Du hast noch viel zu lernen, Heilige." Ihre Gegenüber zog sich den Gürtel so zurecht, dass er ihre Hüften schmaler scheinen ließ.
"Ich kann hier nicht einfach auf ihn zurennen und zu einem Duell herausfordern. Oder ihm mein Messer in die Rippen stoßen. Das könnte eine Familienfehde nach sich ziehen, und die Familien in den Ghettos sind groß."
Sie lächelte, und irgendetwas daran, wie die den Mund verzog, erinnerte Levia an eine Schlange, die kurz davor war, ihren Kiefer um die Maus zu schließen.

"Also macht man es wie ich. Man hängt sich an den Verbrecher, Tag und Nacht, wird zu seinem persönlichen Schatten. Damit er einem nicht wegläuft und ihn irgendein x-beliebiger anderer umbringt. Du bleibst bei ihm, immer, erfährst alles über seine Angewohnheiten- was und wann er isst, wo er schläft, welche Geheimnisse er hegt. Ein Leben vergeudet, nur damit er eines Tages mit einem Messer zwischen den Rippen in seinem eigenen Haus aufgefunden wird. Und du endlich aus seinem Leben verschwinden kannst."

Levia suchte nach keiner Erwiderung. Auf ein solches Ziel gab es keine Antwort.
Aber es war die Frage wert gewesen. Langsam formte sich in ihrem Kopf das Bild der Gesellschaft an diesem hässlichen Ort weiter. Vielleicht hatte der Grauäugige ihr Gesicht entstellt, sodass ihr Kiefer jetzt so unförmig war.

"Wie dem auch sei... der große böse Wolf weiß nur zu gut, dass ich ihm seinen Platz in dieser Welt nicht gönne. Aber solange er Flüster an seiner Seite hat, dazu noch Dutzende Männer zu seinen Füßen, muss er sich keine Sorgen machen. Schließlich bin ich doch nur ein harmloses kleines Mädchen, nicht?"
Unbehaglich ließ Levia das kalte, schrille Lachen über sich ergehen... sie hatte noch nicht gesehen, wozu diese Frau alles fähig war, aber irgendetwas sagte ihr, dass sie das vielleicht auch gar nicht musste, um zu entscheiden, was sie von ihr hielt.

Eine Zeit lang folgte sie ihr schweigend zwischen die düsteren Ruinen, bevor sich ihr eine weitere Frage auf die Zunge drängte.
"Was meinte Flüster wegen meiner Haare?"
"Die Haare..." Sie zuckte die Achseln. "Ich weiß nicht, vielleicht solltest du dich einfach einmal ein wenig genauer umsehen, kleine Heilige."
Sie tat ihr den Gefallen, ohne auf die Stichelei mit der Größe einzugehen, und ließ ihren Blick schweifen.
Es war, wie wenn man auf einen Boden sah und erst nach einigen Sekunden das Gewimmel der darauf umherkrabbelnden Insekten erkennen konnte.
Plötzlich waren da Menschen. Überall.
In dunkle Farben gehüllt, hagere Gesichter, wölfische, lauernde Züge, oft schleichender Gang. Farblos.
Die meisten Gesichter waren teils verdeckt, aber Augen- Augen waren überall; Augen, die sie feindselig musterten, Augen, die unbeteiligt über sie hinwegglitten, Augen, die sie erstechen wollten, jetzt gleich, hier, auf offener Straße-
Weiche Augen. Harte.
Und... männliche und weibliche.

Aufgeregt wandte sie ihren Kopf ein wenig zur Seite. Diese etwas stämmige Gestalt auf dem verrotteten Balkonvorsprung mit den raspelkurz geschmittenen Haaren, die ihr wie ein Schatten um den Kopf lagen- die Form der Wangenknochen, die Haltung... eindeutig, auch wenn sie ein grobes Tuch um Mund und Nase geschlungen trug. Vor ihr, aus einem Hauseingang, leuchtete ein weißes, spitzes Gesicht mit einer verstrubbelten, aschbraunen verfilzten Mähne, unauffälligen braunen Augen und verkniffenen Lippen. Direkt vor ihnen auf der Straße hatte sich neben zwei hoch gewachsenen Männern ein weiteres Mädchen aufgebaut, höchstens fünfzehn Jahre alt, mit kantigen Zügen und flacher Brust. Einen Moment lang irritierte Levia ihr Gesicht, bis sie erkannte, dass die Augenbrauen fehlten, die dunkelbraun wie ihr kurz geschorenes Kopfhaar hätten sein müssen.

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