31. Kapitel

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Wütend stapfte ich durch die Strassen unserer Nachbarschaft. Doch mit jedem Schritt verrauchte meine Wut ein kleines bisschen. Stadessen traten Angst und Verzweiflung auf, die mich zu übermann drohten.
Mr Parker war ziemlich überfordert mit der Situation. Er versprach mir, dass die Lehrer mit ihren Klassen sprechen würden, sodass sie mich nicht behandelten, als wäre ich Medusa persönlich. Ich verwandelte niemanden in Stein und ich würde auch niemanden mit meiner Krankheit anstecken.
Ich wusste bereits zu diesem Zeitpunkt, dass es absolut nichts bringen würde. Meine Mitschüler hielten nun dicht an Tessa und die würde sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Dieses Mädchen konnte mich nun mit Haut und Haaren vernichten.
Ich spürte, wie mir Tränen über die Wangen liefen.
Ich hatte wieder einmal verloren.
Ich würde im Leben immer verlieren, das war mir von Geburt an vorbestimmt.
Mr Parker wollte, dass sich die anderen wieder einkriegten, doch das konnte er vergessen.
„Geh nach Hause", hatte er gesagt. „Ich regle das hier."
Ich konnte nicht einfach weglaufen. Morgen war bereits der nächste Tag, morgen musste ich wieder in die Schule. Und all die Tage darauf ebenfalls.

*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*

Zu Hause angekommen, knallte ich die Haustür so fest zu, dass ich einen kurzen Augenblick befürchtete, dass sie aus den Angeln fallen würde.
„Du liebe Güte, Liebes." Marry  eilte aus dem Wohnzimmer und fuchtelte wild mit ihrem Staubwedel herum. Kaum entdeckte sie die Tränen auf meinen Wangen, breitete sie die Arme aus und ich liess mich in sie hinein fallen.
„Aber, aber. Nati. Was ist denn passiert?", fragte sie besorgt und strich mir beruhigend über den Rücken.
„Sie wissen es. Alle wissen es", brachte ich unter mühsamen Schulchzern hervor. Marry hielt in ihrer Bewegung kurz inne, um mich gleich darauf noch fester in den Arm nehmen zu können.
„Das tut mir so leid, Natalia. Aber wolltest du es nicht allen erzählen?", fragte mich Marry etwas verwundert.
Ich konnte ihr ihre Verwunderung nicht übelnehmen. Natürlich wollte ich, dass meine Mitschüler über meine Krankheit Bescheid wussten. Marry wusste das genauso gut, da ich ihr schliesslich mehrfach damit in den Ohren lag. Aber ich wollte nicht, dass es auf diese Weise ans Licht kam. Mir war bewusst, dass meine Mitschüler damit überfordert wären und mich vielleicht sogar nicht mehr mochten, aber trotzdem hätte ich es gerne gehabt, dass sies nicht über Tessa erfuhren.
„Ich habe es ihnen nicht selber erzählt, wie ich es wollte. Tessa hat es getan", murmelte ich und bemitleidete dabei Marrys weisse Bluse, die sich von meiner Maskara ganz schwarz verfärbte.
„Aber das ist doch das gemeine Mädchen oder etwa nicht?" Marry hielt mich auf Amreslänge und musterte mich weiterhin aus besorgten Augen. Ich nickte. Auch über Tessa wusste sie besser Bescheid als meine Eltern. Marry seufzte tief und lächelte mich aufmunternd an.
„Versuchs positiv zu sehen: Jetzt verheimlichst du niemandem mehr etwas. Das war doch genau das, was du wolltest", versuchte sie mich zu trösten. Es wär ein kläglicher Versuch, für den ich ihr jedoch sehr dankbar war. Ich nickte.
„Es liegt jetzt nur an dir, was du aus der Situation machst. Ob sie so schrecklich endet wie beim letzten Mal oder nicht, liegt einzig und allein in deiner Hand, Liebes.
Egal wie aussichtslos es scheint, denk daran, dass es trotz allem immernoch dein Leben ist. Und nur du kannst die Kontrolle darüber haben. Du musst nur die Zügel gut festhalten."
Die Worte meiner zweiten Mutter spukten wild in meinem Kopf herum und gaben mir zu denken, während sie mir einen Schmazer auf die Stirn drückte und mich noch einmal in den Arm nahm.
Wieder nickte ich. Und murmelte in Gedanken versunken: „Ich geh dann mal hoch in mein Zimmer."
Marry liess mich seufzend los, worauf ich mit gesenktem Blick die Treppen hochstieg.
Ich sollte meine Situation aktzeptieren, wie sie ist, aber ich musste nicht annehmen, was andere daraus machten. Es war mein Leben, genau wie Marry gesagt hatte, und ich konnte trotz meiner Krankheit selber darüber entscheiden.

Gednakenverloren setzte ich mich mit meiner Gitarre auf mein Bett und zupfte darauf herum, ohne dass irgendetwas anständiges dabei herauskam. Kurz darauf stellte ich sie aber wieder an ihren Platz und setzte mich stattdessen an meinen Laptop. Ich ging zum ersten Mal seit meinem Krankenhausaufenthalt auf Facebook, was ich gleich wieder bereute. Nicht die Tatsache, dass ich mehr als hundert Follower verloren hatte, machte mir zu schaffen, sondern die vielen Nachrichten, die mir geschickt wurden. Die vielen gemeinen, respektlosen und feigen Nachrichten, in denen ich als Lügnerin, Virenbombe, verseuchtes Miststück und vieles mehr beschimpft wurde. Wieder liefen mir die Tränen über die Wangen. Eigentlich war das nichts neues, schliesslich hatte man mir das heute in der Schule genug an den Kopf geworfen. Aber irgendwie schmerzen die Worte schwarz auf weiss geschreiben noch viel mehr, als wenn sie einfach nur durch die Luft geschleudert wurden. So konnte ich mir immerhin einbliden, dass es nicht so schlimm war, wie es schien. Aber auf diese Weise musste ich einsehen, dass es eben doch so war, wie es schien: eine einzige Katastrophe.
Ich schlug meinen Lapttop zu und vergrub mein Gesicht in meinen Händen, um mich vor der Welt verstecken zu können.
Ich durfte mir das nicht antun. Es sollte mir egal sein, was die anderen von mir dachten, aber ich musste mir eingestehen, dass dem nicht so war. Mir war wichtig, was man über mich dachte. Aus diesem absurden Grund klappte ich den Laptop wieder auf und betrachtete die Bilder, auf denen ich markiert wurde. Diese waren noch schlimmer. Fast alle davon wurden gefotoshopt. Auf den meisten war ich zu sehen, mit irgendeinem ekligen grünen oder roten Ausschlag, darauf stand dann auch noch irgendeine Gemeinheit.
Ich spürte, wie die Tränen wieder in mir hochkrochen und gerade als ich meinen Laptop ein zweites Mal zuschlagen wollte, öffnete sich ein kleines Fenster. In fetten, roten Buchstaben stand da kaum übersehbar: 'THE LOUDEST VOICE'
Aus purer Neugier, klickte ich das Fenster an, um kurz darauf ein Youtubevideo zu starten. Gebannt schaute ich das Video zu Ende und konnte dabei nicht glauben, wie sehr das Timing stimmte. Es ging um einen Wettbewerb, in dem man der Welt etwas mitteilen konnte. Sei es eine eigene Botschaft, eine Geschichte, irgendwelche Fakten oder sonsitges. Der Wettbewerb zielte darauf, schöne wie auch schreckliche Seiten der Welt zu zeigen. Warum sollte die Welt nicht von der unbesiegbaren Krankheit und von dem Leid, das sie mit sich bringt, erfahren? Jegliche Form von Krankheit wurde von den Menschen gefürchtet und Menschen taten grauenhafte Dinge, wenn sie vor etwas Angst hatten.
Entschlossen griff ich nach meinem Handy, um meine Freunde nach der Schule zu mir nach Hause zu bestellen.

Als ich dieses Video gesehen hatte, da hatte ich erst gar nicht an meine eigene Situation gedacht. Ich hatte an Emily's Home denken müssen. An Abygail und all die anderen, die wohl nie ein normales Leben führen konnten.
Ich hatte nicht einmal an den Gewinn von 50'000 Dollar und die diversen Fernsehauftritte, die der Gewinner erhalten würde, meine Gedanken verschwendet.
Ich hatte gewollt, dass meine Mitschüler erfuhren, wer ich war. Warum sollte ich es nicht auch der Welt erzählen?
Ich habe mich selbst für die vergangenen Monate dafür gehasst, dass ich mich vor meinen Mitmenschen fürchtete und ich mochte gar nicht daran denken, dass es anderen ebenso ging. Ich wusste, dass es anderen so erging wie mir. Das war es, was ich ändern wollte. Die Menschen sollten sehen, wie unmöglich und absolut verletzend sie sich uns Kranken gegenüber verhielten. Wir waren schliesslich Menschen wie jeder anderer auch!

Zugegegeben: Wäre ich nicht so wütend auf meine Mitschüler und verletzt von Tessas Aktion gewesen, hätte ich wohl nie so leichtsinnig gehandelt und mir die Teilnahme dieses Wettbewerbs in den Kopf gesetzt. Ohne diese negativen Gefühle, hätte ich den Mut bestimmt nicht gefunden, überhaupt über so ein Vorhaben nachzudenken.
Wer hätte das gedacht? Tessa war ja doch noch für etwas zu gebrauchen.
Welch eine Ironie.

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