57. Kapitel

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„Guten Morgen!", flötete ich ausnahmsweise einmal gut gelaunt, als ich den Musikraum betrat.
„Für einmal pünktlich, Ocean", bemerkte Delancy, ohne mich eine Blickes zu würdigen. „Sachen gibts." Mühsam versuchte ich meine gute Laune festzuhalten, als sie drohte sich mir zu entziehen. „Tja, es gibt für alles ein erstes Mal", gab ich etwas spitz zurück und bekam ein einfaches „Du musst es ja wissen." zur Antwort.
Also dieses Mädchen konnte einen wirklich zur Weissglut bringen!
Ich schaute mich im Raum um und stellte fest, dass ausser Delancy und mir noch niemand sonst da war. Ich setzte mich neben sie und schaute zu, wie sie eine Gitarre stimmte. „Wirst du mit einem Date auf den Winterball gehen?", fragte ich sie plötzlich und sie schaute erstaunt zu mir auf. Auch ich war überrascht, dass ich sie das so geradeaus gefragt hatte.
„Wenn mich jemand fragt, dann ja", antwortete sie, als sie sich wieder gefasst hatte, und widmete sich wieder der Gitarre. „Du hast also nicht vor jemanden zu fragen?", hakte ich weiter nach, worauf sie mir dieses Mal antwortete, ohne mich anzusehen: „Nein, das habe ich in der Tat nicht vor. Mich interessiert keiner dieser Testosteron gesteuerten Typen. Wenn jemand mit mir dort hin will, dann kann er mich fragen, aber ich werde bestimmt kein Interesse vorheucheln. Ausserdem wüsste ich nicht, was dich das angehen könnte." Ihr kalter Tonfall, der sich einschlich, während sie sprach, liess mich erschaudern. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich keine Ahnung, dass Delancy gleich alt war wie ich. Sie erinnerte einem viel mehr an eine verbitterte Witwe als an ein Teenagermädchen.
„Naja. Wir sind Freundinnen", meinte ich schliesslich, worauf Delancys Blick plötzlich hochschnellte. „Ach ja? Sind wir das? Wenn wir Freundinnen sind, dann müsstest du doch auch so einiges über mich wissen oder nicht?" Ich schaute sie perplex an. „Und jetzt komm mir nicht mit der Geschwistersache mit Tessa und dem ganzen oberflächlichen Kram", fügte sie hinzu und schaute mich erwartungsvoll an.
Ich konnte sie nur schweigend anschauen. Sie hatte recht: Ich wusste wirklich praktisch nichts über sie. Ich hatte keine Ahnung, was sie gerne machte (ausser Musik) und womit sie ihre Freizeit  verbrachte.
„Na siehst du." Delancy stand auf und stellte die gestimmte Gitarre zurück auf ihren Platz. „Du kannst manchmal echt kratzbürstig sein, weisst du das eigentlich?", platzte es plötzlich aus mir heraus. Delancy lachte spöttisch auf. „Und du kannst eine echte Nervensäge sein."
„Ausserdem kannst du einem das Leben echt zur Hölle machen", fügte ich leise hinzu, eher an mich selbst als an sie gewandt, doch sie hatte mich gehört.
„Das ist so eine Eigenschaft, die man in einem Haushalt mit Theresa Holister nun mal annimmt. Das nennt sich 'Selbsterhaltung' oder aber auch 'gesunder Menschenverstand'", erklärte sie mir sachlich und ich schaute sie verdutzt an. „Theresa?", war das Einzige, was ich herausbrachte.
Delancy stand da, eine Hand in die Hüfte gestützt und schaute auf mich herunter. „Ja. Tessas voller Name. Sie findet Theresa zu spiessig und stellt sich immer als Tessa vor. Nur ihre Mum nennt sie so, und sie hasst es", erzählte sie mir nüchtern.
„Das wusste ich gar nicht", flüsterte ich und schaute Richtung Tür.
„Das konntest du auch nicht wissen. Behalt es einfach für dich, wenn diese Ziege herausfindet, das ich dir das erzählt habe, bringt sie mich um."

Noch während ich nickte, flog die Tür auf und die anderen betraten den Raum. „Entschuldigt, wir sind spät dran und - oh Nati, du bist auch schon da!", ratterte Roxie sogleich los und setzte sich neben mich. Chloe, Madison und Harper zogen sich Stühle heran und setzten sich uns gegenüber.
„Also", begann Roxie wieder, „ich habe bei der Schülerzeitung den Auftrag einen Bericht über den Winterball in vier Wochen und über dessen Vorbereitungen zu schreiben. Lasst mich also nicht hängen und plant etwas Anständiges!" Sie packte Papierblock und Stift heraus und schaute uns  erwartungsvoll an. „Ich bin bereit für Ideen."
Somit begannen wir, verschiedenste Songvorschläge zu sammeln und uns zu überlegen, wie wir den Musikproduzenten beeindrucken konnten.

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Am Tag darauf trafen wir uns alle wie immer in der Kantine zum Mittagessen, als Dylan plötzlich sein Tablet auf den Tisch knallte und sich gut gelaunt zu uns setzte. Ich zuckte erschrocken zusammen und Roxie wischte sie mit dem Ärmel übers Gesicht, da sie etwas von seiner Tomatensauce abbekommen hatte. „Heute Abend steigt eine mega Party bei Jack. Wer ist dabei?", fragte er und schaute fragend in die Runde. Ich verdrehte bloss die Augen. „Du weisst, dass ich keine guten Erfahrungen mit Parties gemacht habe", antworte ich kurz und fing mir somit den amüsierten Blick meines Bruder ein. „An dich ging die Frage auch gar nicht, Schwesterherz."
„Na vielen Dank auch!", murmelte ich vor mich hin und da mich niemand beachtete, widmete ich mich wieder meinem Essen und schaute mich in der Kantine um. Als ich zum Sportlertisch schaute hätte ich mich beinahe verschluckt, als ich dort Ethan mit Jacob sitzen sah. Wie als hätte er meinen Blick auf sich ruhen fühlen, drehte Ethan den Kopf und schaute mir direkt in die Augen. Sofort schaute ich beschämt zurück auf meinen Teller.
„Macht ihr, was ihr wollt. Jack hat uns schon eingeladen und wir kommen auch", meinte plötzlich Delancy und als ich aufschaute, sah ich Madison, Chloe und Harper nicken.
„Ich bin raus. Ich muss auf das Kind unserer Nachbarn aufpassen", meinte Roxie und verdrehte die Augen. „Wenn ihr glaubt einmal Kinder zu wollen, dann passt nicht auf diesen Teufel auf, der lässt euch eure Pläne schneller ändern, als ihr bis drei zählen könnt."
„Und ihr wollt wirklich zu Ethan?", fragte Dylan herablassend. Bei der Erwähnung seines Namens, wurde ich hellhörig.
Aiden beugte sich zu Dylan herüber und meinte mit bohrendem Blick: „Er hat uns - seine Freunde - zu sich eingeladen. Er hat ganz bestimmt keine anderen Absichten, falls du das denken solltest." Dylan schüttelte den Kopf. "Nach allem, was er Natalia angetan hat, habe ich echt keinen Bock mehr auf den Typen, das kannst du mir glauben. Aber wenn ihr einfach so darüber hinwegsehen könnt, dann macht das, aber ich mach da nicht mit!"
„Natürlich können wir nicht einfach ignorieren, was er unserer Schwester angetan hat", mischte sich nun auch Mason ein, „aber er scheint wirklich keine Hintergedanken zu haben. Wir sind schliesslich noch immer mit einander befreundet!"
Ich begann meinen Brüdern wie wild zu zuwinken. "Hallo! Ich - eure Schwester - sitze direkt neben euch und ich kann jedes Wort hören und verstehen!" Während Mason und Aiden mich entschuldigend anschauten, schien Meik sein Stichwort zu erkennen und zeigte auf mich. „Da schau. Fragen wir doch einfach sie, ob es schlimm ist, dass wir mit einander befreundet sind." Alle am Tisch schauten mich abwartend an. Alle bis auf Aiden, dem die Situation nicht zu gefallen schien.
„Für mich geht das schon klar. Geht ruhig zu ihm. Immerhin kann ich nicht von euch verlangen, nicht mehr mit ihm befreundet zu sein, nur weil das mit uns nicht geklappt hat", meinte ich schliesslich und stocherte in meinem Essen herum. Ich meinte es wirklich so, wie ich es gesagt hatte, aber trotzdem fühlte es sich komisch an, diese Worte laut auszusprechen.
„Da hast dus", sagte Meik triumphierend zu Dylan und klatschte in die Hände. Dylan grummelte erst etwas Unverständliches vor sich hin, bevor er geschlagen meinte: „Na, gut. Von mir aus, aber ich werde trotzdem auf die Party gehen."
Stumm lächelte ich in mich hinein. Das sagte ich ja nicht oft, aber im Moment würde ich Dylan am liebsten abknutschen. Er mochte ein Player und ein Frauenaufreisser sein, aber er war mir gegenüber auf dem Gebiet Ethan immer loyal gewesen.

Alive - Wie er mich am Leben hielt Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt