22. Kapitel

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Ich erwachte von einem sehr vertrauten Geräusch.
Langsam öffnete ich die Augen, wollte sie jedoch gleich wieder schliessen. Ich zwang meinen Körper, sie offen zu halten. Auch dieses Gefühl kannte ich zu gut. Schloss ich meine Augen, so versank ich viel zu tief in der Hoffnung, dass alles bloss ein schrecklicher Traum war. Bis jetzt war es das noch nie. Die Maschine piepte fröhlich weiter und schien sich über mein Erwachen genauso viel daraus zu machen, wie wenn ich einen Fusel von meiner Hose wischte.
Ohne meinen Kopf zu heben sah ich mich, so gut es ging, im Raum um. Ich fing an, diesen grauenhaften sterilen Ort abgrundtief und aus tiefsten Herzen zu hassen.
Ich hatte in meinen siebzehn Jahren nun genug Krankenhäuser gesehen.
Vorsichtig hob ich meinen Kopf an und blinzelte die schwarzen Punkte weg, die mir vor den Augen schwebten.
Augenblicklich änderte ich meine Meinung über Krankenhäuser. Für den Moment. Denn in einer Ecke sah ich Dylan sitzen. Er schaute mir direkt in die Augen, rührte sich sonst keinen Millimeter.
„Dylan", flüsterte ich und Tränen der Erleichterung füllten meine Augen. Langsam streckte ich meine Arme nach ihm aus, worauf er sich endlich erhob und zu mir herüber kam.
„Was machst du nur immer für Sachen, Natalia!" Er klang völlig fertig. „Auch wenn du nun das Wunder hast, scheinst du jeden Tag in Lebensgefahr zu stecken."
Ich nickte.
„Schaffen es diese Idioten von Brüdern denn nicht einmal für eineinhalb Wochen für dich zu sorgen?", fragte er und setzte sich zu mir aufs Bett.
Ich schüttelte den Kopf.
Nein, sie konnten mich nicht beschützen. Niemand konnte das. Das war weder theoretisch noch praktisch betrachtet möglich. Mein Körper setzte es irgendwie einfach darauf an, immer und immer wieder beinahe zu sterben.
„Dann sollte ich wohl wieder zurückkommen, wenn du dein neunzehntes Lebensjahr noch erleben willst", meinte er, worauf ich wieder nickte. Ich wollte mich ihm am liebsten in die Arme werfen, doch die ruckartige Bewegung liess mich zusammen zucken. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich bei ihm zu entschuldigen.
„Dylan, es tut mir wirklich leid, was ich dir alles an den Kopf geworfen habe. Ich liebe dich und ich weiss, dass du sehr wohl lieben kannst, denn sonst wärst du jetzt ganz bestimmt nicht hier." Mir liefen die Tränen über die Wangen, aus hilflosen Augen blickte ich hoch zu meinem Bruder. Ich war fertig mit meinen Nerven. Mein Leben hatte mich bis aufs kleinste Bisschen strapatziert. Jeder Tag war ein Kampf ums Überleben und ich bildete mir tatsächlich ein, dass ich leben konnte wie jedes andere Mädchen auch. Ich würde das niemals können. Dylan strich mir sanft über den Kopf und sanft über die Wangen, um die Tränen wegzuwischen.
„Das ist alles längst vergessen, kleine Schwester. Das habe ich dir bereits verziehen, als ich aus unserer Haustür gegangen bin", erklärte er und lächelte mich traurig an. Ich starrte ihn fassungslos an. „Aber weshalb bist du dann nicht früher zurückgekommen?"
„Ich dachte, du brauchst nun etwas Zeit ohne mich. Ich bin mit der Situation nicht klargekommen, Nati. Ich hätte dich bloss noch mehr verletzt. Verzeih mir."
Wir sahen uns an und mit meiner heilen Hand drückte ich Dylans. Ich lächelte ihn unsicher an. Da war noch mehr. Irgendetwas war da noch im Busch! Aber vermutlich war ich einfach nur paranoid. Schliesslich hatte ich dasselbe bei Ethan vermutet. Ich wollte trotzdem nicht, dass mein Bruder noch länger von seiner Familie getrennt war. Also meinte ich überschwänglich: „Aber natürlich verzeihe ich dir!"
Dylan lächelte ebenfalls. Etwas trostlos, aber er lächelte.
Da mir erst in diesem Moment auffiel, dass weder Atlanta noch meine Brüder da waren, zog ich meine Stirn in Falten. „Wo sind die anderen?"
Das Lächeln auf Dylans Lippen verblasste.
„Sie wissen nicht, dass du hier bist."
„Wie, sie wissen es nicht?" Ich verstand die Welt nicht mehr.
„Ich habe eine Nachricht erhalten, dass ich auf der Stelle zu der nächsten Bushalte unserers Hauses fahren sollte, ohne jemandem Bescheid zu geben. Da habe ich dich gesehen, wie du gerade zusammengebrochen bist. Ich habe dich auf der Stelle hierher gebracht." Dylan schaute mich nicht an, während er mir dies erzählte.
Ich blinzelte. „Von wem hast du diese Nachricht erhalten?", fragte ich verwirrt.
Dylan zuckte die Schultern. „Die Nummer war unterdrückt."
Ich hatte das Gefühl gleich all meinen Schmerz herausschreien zu müssen. Ich war total am Ende. Ich war verwirrt, hatte keine Ahnung, weshalb ausgerechnet mir das passieren musste.

Alive - Wie er mich am Leben hielt Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt