16. Kapitel

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Ich wusste nicht, wie lange ich im kühlen Sand sass und weinte. Eine Minute? Eine halbe Stunde? Zwei Stunden? Oder vielleicht doch länger?
Ich nahm nichts mehr um mich herum wahr. Nicht, dass es bereits stockfinster war. Nicht, dass das Meer vor mir rauschte, als wollte es mich trösten. Noch nicht einmal, dass hinter mir in meinem Haus meine Geburtstagsparty in vollem Gange lief.
Auch nicht, dass meine Brüder mich wie verzweifelt suchten, während Ethan mit Tessa abgehauen war, wie ich später erfuhr.
Plötzlich spürte ich, wie ich von zwei Armen hochgehoben wurde. In der Erwartung, dass ich in den Armen einer meiner Brüder lag, klammerte ich mich verzweifelt an seinen Hals. Wie konnte das alles bloss passieren? Wie konnnte etwas zu Ende sein noch bevor es überhaupt richtig angefangen hatte? Wo war meine Aussicht auf ein glücklicheres Leben hin?

„Ich hab sie!", rief der Typ, in dessen Armen ich lag.
Ich horchte auf. Diese Stimme gehörte nicht zu einem meiner Brüder. Ich blickte hoch und erkannte in dem schwachen Licht, das uns das Haus spendete, Olivers Gesicht. Augenblicklich löste ich meinen Griff um seinen Hals und starrte ihn aus verheulten Augen geschockt an. Mir blieb aber nicht viel Zeit, da wurde ich ihm auch schon aus den Armen gerissen und von zwei anderen umfasst.
„Nati", murmelte Mason voller Sorge und ich drückte mein Gesicht an seine Brust, atmete seinen vertrauten Geruch ein.
„Komm."
Mason nahm mich an der Hand und zog mich durch die Menge, die bereits etwas kleiner geworden war, hoch in den ersten Stock in Dylans Zimmer. Dort drückte er mich sanft auf sein Bett und tigerte im Zimmer auf und ab, während er abwechselnd die Fäuste ballte und sie wieder löste. Er sah aus, als würde er jeden Moment irgendetwas kaputt schlagen wollen.
Mir liefen schon wieder die Tränen über die Wangen. Oder liefen sie bereits die ganze Zeit? Ich wusste es nicht mehr.
Die Tür flog auf und Roxie, die völlig ausser sich war, warf sich mir an den Hals. Ich schloss sie fest in die Arme.
„Ist es wirklich wahr? Hat er wirklich-", begann sie, wurde jedoch barsch von Dylan unterbrochen.
„Natürlich ist es wahr! Ich habe die beiden doch zusammen erwischt! Oder glaubst du, ich hätte mir das bloss ausgedacht?", fuhr er sie viel zu laut an, sodass sie zusammenzuckte. „Das ist kein Grund mich gleich so anzuschreien", erwiderte sie mit brüchiger Stimme. Sie war den Tränen nahe.
Dylan lachte freudlos. „Ich will dich aber anschreien. Du bist ihre beste Freundin, du hättest sie von Anfang an von ihm fernhalten sollen!"
Da wurde es mir zu viel. Ich stiess Roxie von mir weg, sprang auf und baute mich vor meinem zornigen Bruder auf. „Wie kannst du es wagen, Roxie dafür die Schuld zu geben! Ethan hat mich, scheisse nochmal, mit Tessa betrogen und nicht sie! Was hätte sie also tun sollen, verdammt? Au-" Ich verschluckte mich an meinen eigenen Worten, als ich realisierte, in welchem Zustand Dylan vor mir stand. Ein Veilchen zierte sein linkes Auge, seine Lippe war aufgeplatzt, unterhalb seiner Nase konnte ich noch einige Blutrückstände erahnen. Seine Fingerknöchel waren ebenfalls von Blutkrusten übersäht.
„Ist er stark verletzt?", fragte ich leise und voller Sorge.
Alle im Raum sahen mich ungläubig an.
Ich hatte gar nicht bemerkt, wie der gesamte Rest meiner Freunde, einschliesslich Oliver, ins Zimmer gekommen waren.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Dein Freund war gerade mit Tessa in der Kiste. Und die haben nicht nur geredet. Ethan hat sie genommen, bis sie seinen Namen geschrien hat!", brüllte mir Dylan mitten ins Gesicht. Fassungslos starrte ich ihn an. Auch die anderen waren sprachlos.
„Vermutlich hatten die beiden schon die ganze Zeit etwas, aber nein! Meine kleine Schwester, die Supertolle, ist so naiv zu glauben, dass ein Kerl wie Ethan wirklich lieben kann!"
Ich holte aus und klatschte Dylan eine. Erschrocken schaute er auf mich hinunter.
Du wirst nie wissen, wie es ist jemanden zu lieben. Dafür bist du viel zu kaputt!", meinte ich weinend.
Mein Bruder schaute nüchtern auf mich herab. „Und du wirst nie wissen, wie es ist, ohne Medikamte leben zu können", erwiderte er kalt, mir stockte der Atem.
„Geh", flüsterte ich, nachdem ich mich wieder gefasst hatte.
„Was?"
„Verschwinde!" Ich fand meine Stimme wieder und schaffte es sogar, sie gefasst klingen zu lassen.
Dylan verschränkte die Arme vor der Brust. „Dir ist klar, dass das hier mein Zimmer ist."
Isch schüttelte den Kopf. „Ich meinte, du sollst dieses Haus verlassen. Sofort! Und komm erst wieder zurück, wenn du der grosse Bruder bist, der mich mein Leben lang beschützt hat, den ich trotz seiner unzähligen Fehler sosehr geliebt habe."
Getroffen wich er einige Schritte nach hinten aus. Er sah aus, als wollte er noch etwas erwidern, doch dann schien er sich dagegen zu entscheiden, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand aus dem Zimmer und dann aus dem Haus.

Ich hatte vollkommen vergessen, dass sich in dem Zimmer noch Delancy, Chloe, Madison, Harper und Oliver befanden, die keinen blassen Schimmer von meiner Krankheit hatten. Ich beschloss aber, nichts mehr dazu zu sagen.
Aiden kam auf mich zu und nahm mich in den Arm.
„Wie sind die beiden überhaupt in mein Zimmer gekommen? Habt ihr denn nicht abgeschlossen?", fragte ich, verzweifelt auf der Suche nach Gründen, warum er das getan hatte. War es der Alkohol? Pure Kaltherzigkeit, wie es Dylan gesagt hatte?
„Doch, haben wir. Wir haben die Schlüssel alle in der Küche unten versteckt. Also er hat sie dort versteckt", erklärte Aiden sachte und drückte mich dabei noch mehr an sich.
Ich verfiel in hemmungsloses Schluchzen.
'Er hat es mit voller Absicht getan.'

Da ich im Moment einfach nicht alleine sein wollte, erklärte Mason sich dazubereit, dass ich zu ihm in sein Zimmer gehen konnte, in mein Zimmer wollte ich nach dem Vorfall gerade nicht mehr so schnell wieder. Die anderen sorgten dafür, dass die Leute langsam nach Hause gingen. Ich konnte sowieso nicht verstehen, wer an einem Dienstagabend so lange Party machen wollte.

Ich lag neben Mason in seinem Bett und erkannte mein eigenes Leben nicht mehr wieder. Niemals hätte ich gedacht, dass mir soetwas passieren würde. Andererseits hatte ich auch nie gedacht, dass ich jemals ein halbwegs normales Leben führen konnte.
Dennoch konnte ich Ethan nicht einfachso aufgeben. Mein Kopf versuchte verzweifelt mein Herz zurückzuholen, doch dieses verankerte sich umso mehr in Ethans Brust, obschon er sich im Moment wohl gerade mit Tessa vergnügte.
Ich lag im Dunkeln neben meinem Bruder, stumme Tränen liefen mir über die Wangen, und fühlte mich wie der einsamste Mensch auf Erden. In diesem Moment schien es kein gutes Gefühl mehr zu geben.
So viel hatte er mir versprochen, ich hatte ihm vertraut, wie ich es sonst noch nie bei einem anderen Menschen getan hatte.
Ich fragte mich, ob es noch mehr Mädchen gab, die so fühlten wie ich es gerade tat.
Ein Leben ohne Ethan konnte ich mir nicht vorstellen.
War es überhaupt noch mein Leben? War es das, was ich wollte? Wo blieb dieses gute Gefühl, das ich sosehr liebte?

Ich erkannte mein eigenes Leben nicht mehr.

*~*~*~*~*~*~*~*~*~*

Hallo meine Schnuckels :)

Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ihr in den Kommentaren des letzten Kapitels sehr interessante Spekulationen in die Runde geworfen habt. ;)
Einige kommen der Wahrheit sogar schon gefährlich nahe. :P

Keine Sorge, weil dieses Kapitel so kurz war, folgt gleich noch eine Art Bonus. ;)

Viel Spass beim Lesen!
Eure CatGirl1313

Alive - Wie er mich am Leben hielt Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt