Kapitel 1

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Regenschwere Wolken eilten über den bleigrauen Himmel und erweckten den Anschein, als ob sie Fangen spielten. Es würde sicher bald wieder anfangen zu regnen. Die Fichten, die auf einer nahen Anhöhe wuchsen, wurden vom Wind heftig durchgeschüttelt und bogen sich gefährlich. Auch die jüngeren Bäumchen eines Buchenhains schwankten unruhig im stürmischen Wind, der ihnen auch noch die letzten trockenen Blätter entriss. Diese wehten schon zu tausenden in kleinen Wirbeln über den Rasen und ließen jede Mühe das Gras blattfrei zu halten zu nichte machen.

Nicht, dass Familie Wellingston sonderlich penibel war, aber es war doch nicht im Sinne des Erfinders in Fluten von Blättern zu ertrinken. Wer auch immer den Herbst und den darauf folgenden Winter erfunden hatte...

Sie ließ ihren Blick weiter Ausschau haltend über die umliegende Landschaft schweifen: kahle Hügel, genauso kahle Bäume und -bis auf die Wolken- ein kahler Himmel. Kein Vogel rührte eine Feder und die Sonne ließ sich schon seit Tagen nicht mehr blicken.

Das Mädchen seufzte. Sehnsuchtsvoll wünschte sie sich, dass der kommende Winter schon vorüber und es wieder Sommer wäre.
Das Profil ihres Gesichtes hob sich im starken Kontrast von dem hellgrauen Himmel ab und betonte die ausgeprägten Wangenknochen, welche sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Irgendwann musste er doch kommen!

Schon seit einer geschlagenen Stunde stand sie, die kalten Hände in den Taschen ihres Mantels vergraben, da und wartete ungeduldig auf den ihr verhofften Anblick. Zum wiederholten Male wischte sie sich die vom Wind verursachten Tränen aus den Augenwinkeln und blinzelte gegen die Böen an. Illivrin hatte die gleichen wunderschönen meerblauen Augen mit grünen Einsprengseln, wie ihr Vater. Ihre rötlich-braunen und sehr widerspenstigen Haare allerdings, konnten nur eine Laune der Natur sein, denn alle in ihrer Familie waren entweder brünett oder dunkelblond.
  
Als ihre Haare anfingen heftiger zu flattern und das Spiel der Wolken stürmischer wurde, wollte sie sich gerade abwenden und sich wieder auf den Heimweg machen. Zurück zu dem Haus in den Hügeln, das zwischen einem unscheinbaren Dorf und dem Meer lag, und in dem sie mit ihren Eltern Mellin und Claudio lebte. Doch endlich, endlich ertönte das lang ersehnte Geräusch - das langsame Schlagen von großen Flügeln.

Genauer gesagt von riesigen ledernen Schwingen. Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen wirbelte sie herum. Zwischen den Regenwolken tauchte eine schnell größer werdende Gestalt auf und bremste langsam ab.

Eine erneute Windböe bog Bäume und Sträucher, als das riesenhafte Reptil in immer enger werdenden Kreisen über dem fichtenbedeckten Hügel in den Landeanflug überging.
Ein langer geschmeidiger Körper, harte bronzefarbene und goldene Schuppen, eine lange Schnauze und zwei gedrehte weiße Hörner auf der Stirn.

Insgesamt erzeugte er mit seinen circa 15 Metern -von der Schnauze bis zur Schwanzspitze- tatsächlich einen eindrucksvollen Anblick.
"Auroooon", rief Illivrin und rannte mit ausgebreiteten Armen auf den Drachen zu, der sich fast übergangslos in einen muskulösen Mann mit halb langen dunkel blonden Haaren und grünen Augen verwandelte.

Geschickt federte er sich in Menschengestalt vom Boden ab und lief lachend mit ausgebreiteten Armen auf seine Schwester zu. "Schwesterherz! Ich habe dich so sehr vermisst!" Glücklich drückte er das Mädchen an seine breite Brust und streichelt ihr den Rücken. "Du hast deine Landung wirklich perfektioniert", murmelte Illivrin und kuschelte sich in seine wärmende Umarmung. Er lachte. "Ja, ich hatte auch genügend Zeit dafür. Mehr als mir lieb war."

Eineinhalb Jahre hatten sie sich nicht mehr gesehen, da Auron in eine berühmte Kampfschule geschickt worden war, um für den bevorstehenden Krieg zu trainieren. Viele junge Drachen träumten von einem hohen Rang im Heer der Drachengemeinschaft. Sie wollten dabei Ruhm und Ansehen ernten und auch ihr Land und ihre Mitdrachen vor ihren Feinden beschützen. Vor knapp 15 Jahren hatte es nämlich einen grausamen Krieg gegen ihre größten Feinde gegeben. Der Sieg hatte sehr viele Leben gekostet und viele Drachen waren verstümmelt oder anderweitig schwer verletzt worden. Sie hatten große Verluste in ihren Reihen zu beklagen gehabt, doch auch der Feind war nicht weniger dezimiert aus dem Kampf hervorgegangen.

Illivrin-Die Suche nach dem FeuerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt