In dieser Nacht war es Sophie das erste Mal seit ihrer Ankunft in London möglich, erholsamen Schlaf zu finden. Mr Kingsley fand im Gegensatz zu ihr beinahe keinen Schlaf. Und so kam es wie es kommen musste.
Viel zu früh am Morgen brach er auf, um der Familie McAlister einen Besuch abzustatten.
Die Luft war für diesen Herbsttag schneidend kalt und ungewöhnlich rein. Mr Kingsley hatte beschlossen auf eine Kutsche zu verzichten, da ihm der morgendliche Spaziergang mit Sicherheit gut tun würde.
London war bereits von geschäftigem Treiben erfüllt, was die Oberschicht zumeist nicht bemerkte, da sie gewöhnlich um diese Tageszeit im Bett lagen und fest schliefen.
So wie auch Miss Sophie, als Mr Kingsley vor dem pompösen Haus der McAlisters hielt und einen Blick auf seine Taschenuhr warf.
Nur Mr McAlister, der nicht an der Festlichkeit des vergangenen Tages teilgenommen hatte und die Dienstboten waren schon auf den Beinen.
Nachdem Mr Kingsley sich entschlossen hatte, dass man ab 8 Uhr morgens vorsprechen konnte, ohne in Gefahr zu geraten jemanden aus dem Schlaf zu reißen, läutete er.
Ein etwas verwundert drein blickender Lakai öffnete ihm die Tür.
"Guten Morgen, Sir. Haven Sie einen Termin?"
Mr Kingsley rang sich ein höfliches Lächeln ab und antwortete: "ich wollte bei den McAlisters sowie Miss Badford vorsprechen.
Der Bedienstete nickte steif und fragte mit vollkommen emotionsloser Stimme: "wen darf ich melden?"
"Mr Charles Kingsley"
"Sehr wohl Sir, ich führe sie in den Salon. Wenn Sie mir bitte folgen würden."
Sobald Mr Prachatt, so hieß jener Diener den Gentleman in den prächtigen Salon geführt hatte, lief er so schnell seine Beine ihn tragen konnten hinab in den Keller, wo die meisten der Dienstboten noch beim Frühstück saßen.
"Wir haben Besuch" teilte er der versammelten Runde mit, worauf sich der Butler Mr Stevens erhob und folgende Anweisungen erteilte: "miss Fox, Emma und Serafine, ihr geht sofort hinauf und kümmert euch um eure Ladyschaft sowie die jungen Damen."
Folgsam erhoben sich die drei Zofen und eilten ohne ihr Frühstück zu beenden nach oben.
"Tom, Sie bringen unserem Gast etwas zu essen und zu trinken. Und Sie Mr Jones sagen seiner Lordschaft Bescheid, dass er in den Salon kommen soll, bis die Damen angezogen sind."
Alle genannten sprangen auf, um die Erledigung ihrer Aufgaben so schnell wie möglich zu erfüllen.
Als Sophies Zofe Emma ihr mitteilte, dass Mr Kingsley schon im Haus sei, sprang die junge Dame wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett.
Zum Anziehen und Frisieren brauchte sie an diesem Tag nicht einmal die Hälfte der sonst benötigten Zeit, um zufrieden mit ihrem Äußeren zu sein.
Übermütig stürzte Sophie aus ihrem Zimmer, wobei sie fast mit ihrem Cousin James zusammen gestoßen wäre, der im Gegensatz zu ihr noch im Nachthemd war.
Auch Amalia hastete aus ihrem Zimmer, gemeinsam eilten sie die breite Treppe hinab, gefolgt von ihrer Mutter, deren Frisur ein wenig schief saß.
Vor dem Salon hielten die Damen kurz inne um etwas Atem zu schöpfen.
Mr Kingsleys Miene hellte sich auf, sobald die Damen des Hauses den Raum betraten. Denn sein Gespräch mit dem Hausherren war nur schleppend vonstatten gegangen. Sobald der junge Herr nichts bewundernswertes mehr am Haus gefunden hatte, erstarb das Gespräch allmählich.
An jenem Morgen sprühte Miss Sophie nur so vor Charme und jugendlicher Frische. Ihre Unterhaltung war angenehm, doch sie ging nicht über die standartisierten Höflichkeiten hinaus.
Trotzdem waren die jungen Leute keineswegs enttäuscht von diesem Zusammentreffen, schließlich freuten sie sich auf den bevorstehenden Abend, denn Mrs McAlister hatte den jungen Mann zu einem Dinner mit der Familie eingeladen.
Auch Mrs McAlister wirkte zufrieden, da sie erneut die Gelegenheit bekam um das zukünftige Glück ihrer Nichte zu fördern. Nur Mr McAlister schien diese Angelegenheit unangenehm zu sein, denn auch er hatte von Mr Kingsleys Ruf gehört und war um die Reputation seiner Nichte besorgt.
***
"Sophie, würdest du mich bitte kurz in die Bibliothek begleiten?" bat Mr McAlister, nachdem auch die letzten Gäste das Haus verlassen hatten... Schweigsam begleitete Sophie ihren Onkel nach oben. Erst als sie es sich in den alten Ledersesseln der Bibliothek bequem gemacht hatten begann Mr McAlister zu sprechen: "Mr Kingsley scheint dir sehr zugetan zu sein..."
Bei dieser direkten Feststellung errötete Sophie bis zu den Haarspitzen.
"Natürlich ist dies ein Grund zur Freude" versicherte ihr der Onkel rasch, "doch ich habe auch meine Befürchtungen, was du einem alten Mann mit Sicherheit nicht übel nehmen kannst."
"Was für Befürchtungen" flüsterte Sophie verunsichert, denn Mr Kingsley war es in der Zwischenzeit gelungen alle Befürchtungen, die sie zum Beginn ihrer Bekanntschaft gehegt hatte, zu zerstreuen.
"Dass Mr Kingsleys Ruf nicht untadelig ist, ist dir mit Sicherheit auch schon zu Ohren gekommen. Allerdings habe ich handfeste Beweise dafür dass er sich mehrern jungen Damen gegenüber äußerst unehrenhaft verhalten haben soll. Und ich möchte dich zu größter Vorsicht ermahnen, was diesen Gentleman betrifft."
Mr McAlister seufzte kaum hörbar, denn er hätte seiner lieben Nichte gern erspart, was sie nun erfuhr.
"Er soll eine junge Frau, aus gutem Hause verführt und sie dann mit dem Kind allein zurückgelassen haben."
Mr McAlister hatte die Reaktion seiner Nichte falsch eingeschätzt. Er hatte mit einer heftigen Reaktion gerechnet, aber dass Sophie beinahe in Ohnmacht fallen würde war ihm nicht im Traum eingefallen.
Er wollte gerade nach einem Bediensteten klingeln, als seine Nichte sich wieder erholte.
Trotzdem saß ihr der Schreck noch tief in den Knochen. Niemals hätte sie Mr Kingsley ein solches Verhalten zugetraut und in diesem Moment konnte sie es noch gar nicht so richtig fassen.
"Ist diese Information aus einer verlässlichen Quelle?"
"Ich darf dir nicht sagen, von wem ich diese Information habe, doch ich kann dir versichern, dass sie aus der zuverlässigsten Quelle stammt, die ich kenne."
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Miss Sophie
Historical FictionSophie Badford ist eine wohlhabende junge Lady. Gemeinsam mit ihrem Vater, ihrer Mutter und ihrer Schwester Ann genießt sie die Freuden des Lebens. Doch plötzlich erkrankt ihr Vater an einer unheilbaren Krankheit und sie müssen um ihre Zukunft bang...