Teil 18: Schuld

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Sam.

Nach ein paar Tagen in Ruhe Zuhause ging es mir schon viel besser und ich war wieder bereit für die Schule. Ich sah in den Spiegel, sah meine blauen Augen und das Lächeln, dass sich immer auf meinem Gesicht ausbreitete, wenn ich daran dachte, dass ich Ava bald wiedersehen würde. Dann putze ich meine Zähne und versuchte das Chaos auf meinem Kopf zu bändigen.

Selbst Dad schien zu merken wir gut meine Laune an diesem Tag war. Anscheinend hatte ich ihn angesteckt, denn wärend er das Frühstück zubereitete pfiff er eine seiner Lieblingsmelodien und ich stimmte kurzerhand mit ein.

Ava.

Nervös versuchte ich mich unauffällig nach Sam umzusehen, doch bis jetzt schien sie noch nicht aufgetaucht zu sein. Grayson erinnerte mich daran, dass ich, wenn ich mich so verhielt, wie ein aufgeschrecktes Huhn wirkte und daraufhin konnte ich mich ein wenig beruhigen. Auf die Fragen, weshalb ich denn so nervös sei, oder wo Jane denn sein würde antwortete ich mit einem abweisenden Schulterzucken. "Es ist nichts.", versicherte ich meinen Freunden immer wieder, auch dann als Sam kurz vor Beginn des Unterrichts ins Klassenzimmer kam, mir einen dunklen Seitenblick zuwarf und sich auf ihren Platzt setzte. Ich hatte mich fast an dem letzten Wort verschluckt und bemerkte wie ich rot anlief.

***

Der Rest der Stunde schien wie im Flug zu vergehen, in der Sam und ich uns verstohlene Seitenblicke zuwarfen. Als es zum Ende klingelte, verließ ich den Raum nicht ohne vorher noch ganz unabsichtlich dicht an Sams Stuhl vorbeizustreifen, die noch damit beschäftigt war ihre Sachen zusammenzupacken.
An meinem Spind angelangt räumte ich so schnell wie möglich meine Bücher ein, um zur nächsten Stunde zu kommen - je schneller ich nach Hause könnte, desto besser - als ich plötzlich jemanden schreien hörte. Es schien vom Treppengeländer zu kommen, in die alle möglichen Schüler in heller Neugierde nun hinzuströmen schienen. Ich schloss meine Spindtür mit einem Knall und bahnte mir einen Weg zwischen den gaffenden Schülern hindurch, um mir selbst einen Überblick über die Lage verschaffen zu können, als mein Herz für eine Sekunde lang aussetzte. In der Mitte des ganzen Geschehens standen eine wütende und in Tränen zerflossene Jane und eine verwirrte Sam, die mir einen fragendenden Blick zuwarf, als sie mich entdeckte. Mit rot geschwollenen Augen und ihren roten Haaren, sah Jane aus wie eine verrückte, die dem Irrenhaus entkommen war. Sie fixierte Sam mit einem gnadenlos hasserfüllten Blick. "Du bist Schuld", schrie sie Sam so laut an, dass wir alle zusammenzuckten. "Schuld? Woran?", wollte Sam wissen, die überhaupt nichts mehr zu begreifen schien. Doch das machte Jane plötzlich so rasend, dass sie Sam bis zum Treppenabsatz zurückdrängte. "Hey!", sagte ich laut, im Inbegriff in die Situation einzugreifen, als etwas geschah, dass ich nie wieder vergessen würde.
Jane schubste Sam, die am Rand des Treppenabsatzes stand. Plötzlich schien alles in Zeitlupe zu geschehen. Ich sah Sam, ihren erschrockenen Blick, ihr Körper, der langsam das Gleichgewicht verlor, auch wenn sie versuchte sich mit dem Schwung ihrer Arme am Fallen zu hindern. Ich stürzte vor, versuchte ihre Hand noch zu erwischen, doch ich schaffte es nicht.
Sam viel rückwärts, schlug mit ihrem Rücken an den Stufen auf, rutschte drei weitere runter, bis sie auf die nächste aufschlug und die letzten runterrollte. Dann wurde es plötzlich still, als ihr Körper am Treppenabsatz zum Halten kam und sie still liegen blieb, uns den Rücken zugewandt.

Im ganzen Gebäude schien es plötzlich so still zu sein, dass man jede Stecknadel auf dem Boden hören konnte. Und dann plötzlich brach diese Geräuschlosigkeit, wurde zerissen durch die Schreie und Stimmen all der Menschen um mich herum. Doch ich bemerkte sie nicht, ich war wie erstarrt, bis ich plötzlich jemanden schreien hörte, der die anderen in seiner Verzweiflung zum Verstummen brachte. Ich rannte die Treppe herunter, rutschte ab, fing mich wieder am Treppengeländer ab und überwand den Abstand zwischen Sam und mir. Als ich mich neben sie auf den Boden kniete schob ich eine Hand unter ihren Körper und drehte sie zu mir um. Blut lief aus ihrer Nase und tropfte auf den Boden neben ihr. Tränen liefen mir über die Wangen, als ich immer wieder ihren Namen sagte und ihren leblosen Körper fest in den Armen hielt.

***
Alles wirkte verschwommen, als das Blinklicht des Krankenwagens über die Fenster in den Schulflur drang. Jemand legte mir seine Hände auf die Schultern, redete beruhigend auf mich ein, versuchte mich von Sam zu lösen, doch meinen Griff um sie verstärkte sich noch mehr und ich drückte sie fester an meinen Körper. Gemeinsam wurden wir in den Krankenwagen gebracht, Sam wurde auf einer Trage auf die Ladefläche gerollt und ich hielt ihre Hand fest in meiner, während ununterbrochen Tränen über mein Gesicht strömten.

Sam.

Als ich meine Augen aufschlug brannte es in meiner Kehle wie verrückt und ich registrierte einen Gips an meinem linken Arm. Ich war schon einmal wach gewesen, hatte verschwommen meinen Vater und Ava an meinen Bett sitzen sehen, bin aber wenige Minuten später wieder weggedöst. Jetzt dröhnte mir der Kopf und ich konnte gar nicht mehr an Schlafen denken, bis ich nicht etwas Flüssigkeit in meinen Körper bekommen hatte. Ich versuchte meine Lippen zu befeuchten, aber selbst dafür hatte ich zu wenig Spucke. Und da ich allein war drückte ich den roten Klingelknopf neben meinem Bett und wartete. Als die Schwester kam brachte sie mir kurzerhand etwas Wasser und erklärte mir, dass mein Vater in der Arbeit wäre. Die Schwester ging wenig später und ich fühlte mich ein klein wenig allein, so wie ich da in dem Raum mit den leeren Krankenbetten lag. Dann entdeckte ich mein Handy auf dem Kasten neben meinem Bett und betete, dass der Akku nicht leer war, doch es ging an. Da es bereits neun uhr Morgens war ging ich davon aus, dass Ava in der Schule war.
"Wie lang war ich weg?", schrieb ich ihr also. Dann legte ich mein Handy wieder zurück auf die Ablage, was mit nur einer Hand nicht sehr einfach war und sah mich erneut im Raum um. Was jetzt?, fragte ich mich. Ich überlegte gerade, wie ich mich vom Jucken meines Arms unter dem Gips ablenken sollte, als mein Handy neben mir plötzlich vibrierte. Umständlich nahm ich es wieder von der Ablage, entsperrte es und stellte fest, dass Ava mir bereits geantwortet hatte:
"Du bist schon wach?"
und dann:
"ich fahre zu dir."

Perplex starrte ich auf den Bildschirm meines Handys und konnte nicht glauben, was ich dort las. Ich antwortete ihr ein schnelles "Ok", obwohl ich wusste, dass sie auch gekommen wäre, wenn ich es ihr verboten hätte und konnte es nicht lassen, trotz des miserablen Zustands in dem ich mich befand zu grinsen.

Ava.

Ich hielt ihre gesunde Hand fest in meiner, während ich auf dem Stuhl neben dem Bett saß und beäugte ihren Gips. "Hast du Schmerzen?", fragte ich sie, doch Sam schwor sie hätte nur ein wenig Kopfschmerzen. Dann sah ich ihr in die Augen. Lange, traurig und voller Scham. "Es ist alle meine Schuld.", sagte ich und Sam brach den Blickkontakt zwischen uns ab, in dem si in ihren Schoß blickte. "Warum?", war das einzige Wort das sie sagte, bevor sie mich wieder ansah, diesmal selbst mit einem traurigen Ausdruck im Gesicht.
"Es hatte gar nichts mit dir zu tun. Es war nur eine Sache zwischen Jane und mir...und sie hat ihre Wut an dir ausgelassen." Sie blickte mich an, doch antwortete nichts.
"Hör zu Sam, ich habe mit Jane gespielt, weil ich ein Arschloch bin und du hast für mein scheiß Verhalten bezahlen müssen. Ich hätte an deiner Stelle sein sollen, ich hätte die Treppe runterfallen sollen, ich hätte mir den Arm brechen sollen und jetzt in diesem Bett liegen. Ich bin ein schlechter Mensch und wenn du mich jetzt hasst dann kann ich das völlig verstehen, denn..."
"Ava!", unterbrach Sam mich plötzlich. "Ich hasse dich nicht. Ich könnte dich niemals hassen. Und auch wenn ich sagen muss, dass du niemanden so behandeln kannst, wie du Jane behandelt hast. Aber hassen kann ich dich nicht."
Eine stille Träne lief meine Wange runter als sie sprach.
"Sam als dort unten lagst, dachte ich du wärst tot. Ich dachte du wärst tot und alles wäre meine Schuld. Sam, ich glaube ich liebe dich."
Ich hatte die anderen Tränen gar nicht bemerkt, die sich auch auf mein Gesicht geschlichen hatte doch ich spürte sie, als Sam mit ihrer gesunden Hand über meine Wangen strich und sie wegwischte. "Ich liebe dich such Ava.", flüsterte sie, so leise, dass es nur für mich bestimmt war und dann küsste ich sie, wie ich sie noch nie zuvor geküsst hatte. Das warme Gefühl, dass mir so fremd und dich so vertraut zugleich war breitete sich wieder in meiner Brust aus und wärmte meinen Bauch und ich liebte Sam, ich wusste es endlich. Ich liebe Sam.

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