Kapitel 54

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Habt ihr euch schon mal gefragt, wie es dazu kommt, dass in uns Menschen die Grausamkeit und Kaltblütigkeit heranwächst? Hat es damit zu tun, wie oft ein Mensch verletzt wurde oder was er erleben musste? Oder entwickelt sich dieser Charakterzug einfach? Wacht man eines Morgens auf und verspürt den Drang, anderen Menschen Leid zu zufügen? Ist es erst ein kleiner Gedanke, ganz weit verschlossen im hintersten Teil unseres Gehirns, welcher erst zum Ausbruch kommt, wenn der innere Engel die Bestie nicht mehr Festhalten konnte? Und was passiert dann? Lässt man einmal seinen grausamen Lüsten freien Lauf und verschließt sie danach wieder? Oder übernehmen sie die Oberhand und man ist nicht mehr man selbst, sondern nur noch eine Abscheulichkeit, welche gegen die Menschlichkeit verstößt?

Ich weiß es nicht.

Was ich weiß ist, dass meine innere Bestie immer wieder und wieder an der Leine gezogen hat und ich ihr ab und zu das Privileg gewährt habe, kurz frische Luft zu schnuppern. Allerdings konnte ich jedes Mal genug Kraft aufbringen, um sie zurück in ihr kleines Gefängnis zu stecken.

Doch heute, heute ist nicht nur die Rettungsleine- zu dem letzten Funken Hoffnung in mir- gerissen, sondern auch die Leine, mit welcher ich meine innere Abscheulichkeit versucht habe festzuhalten.

Aber ich habe versagt.

Sie ist gerissen und draußen ist der Teufel. Damit musste sich auch der letzte gute Teil in mir verabschieden. Der Teil, welchen ich nicht als Engel bezeichnen würde, aber als unschuldig und wehleidig. Der Teil, welcher mein Lachen mit sich hatte, meine Freude, meine Hoffnung und auch meine nie sterbende Liebe zu meinem Gegenstück.

Ich hätte nie gedacht, dass wenn dieser Teil in mir mal verschlossen werden würde, genau diese Person- welche schon immer im Besitz von diesem gewesen ist - der Grund dafür sein würde.

Aber das ist er. Er ist der Grund, für meine sterbende gute Seite und er ist auch der Grund, warum ich jetzt gerade dabei bin mir ein Tattoo stechen zulassen.

Ich bin nie der Typ für Tattoos gewesen, noch finde ich sie sonderlich anschaulich. Zumindest nicht an mir selber, aber es ist Zeit, dass ich und mein Körper eines einsehen.

Der Ryan, welchen ich glaubte zu kennen und zu lieben, ist weg und er wird nie wieder kommen.

Und wie könnte man sowas besser verinnerlichen, als durch eine Narbe? Durch einen Schriftzug, welcher tief in deine Haut gestochen und für immer ein Teil von dir bleiben wird.

„Sind sie bereit?" Die ungefähr 30 Jahre alte Frau, sieht mich durch ihre Haselnuss braunen Augen an und hält die Nadel kurz über meiner Haut. Auf ihrem Körper sind überall Tattoos. So viele, dass ich nicht sicher bin, ob es auch noch eine Stelle gibt, an welcher sie nicht tätowiert ist. Aber es passt zu ihr, sehr gut sogar.

Ich nicke als Antwort und lege meinen Kopf auf das Polster vor mir, während sie anfängt mit der Nadel durch meine Haut zu stechen.

Ich hätte ehrlich gesagt gedacht, dass ich irgendeine Art Schmerz verspüre. Ein Brennen, ein Stechen oder auch nur ein Ziehen. Aber da ist nichts, gar nichts.

Ich frage mich, ob ich überhaupt noch etwas fühle und pieke mir zur Sicherheit in meine Fingerkuppe. Aber auch hier, wieder nichts.

Hat das Befreien meiner Bestie zur Folge, dass alle meine Gefühle mit meinem guten Ich verschwunden sind? Oder erleide ich einfach nur einen Burnout? Die Frage ist, woher sollte dieser kommen? Mit meiner Bewerbung für Harvard bin ich schon seit Monaten fertig und die Klausuren habe ich bis jetzt auch alle mit Bravour überstanden.

Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für mein kleines Stimmchen, um sich mal zu Wort zu melden, aber ich glaube, dass sie mit dem anderen Teil verschwunden ist...

„So, Sie sind fertig. Wollen sie es sehen?", fragt mich die Tätovirerin und rückt ein Stück von mir weg, sodass ich mich aufrichten kann.

Langsam erhebe ich mich aus meiner halben Liegeposition und schaue über meine Schulter in den Spiegel, welchen sie vor meinen Rücken hält.

„Gefällt es ihnen?"

„Absolut.", antworte ich ehrlich und betrachte die geschwungenen Worte unter meinem Schulterblatt. Die Worte, welche ich ab jetzt wie stärkende Flügel mit mir tragen werde.



simply a game



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Das ist das wahrscheinlich kürzeste Kapitel, welches ich je geschrieben habe, aber es musste so kurz sein.

Manchmal reichen ein paar Worte um zu zeigen, was man sagen will.

Bis dann.

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